#Roman

Brennende Felder

Reinhard Kaiser-Mühlecker

// Rezension von Franz Schörkhuber

Am Fenster des Daseins

Seit vielen Jahren gruppiert Reinhard Kaiser-Mühlecker seine Romanfiguren um den fiktiven – nahe dem Magdalenaberg bei Pettenbach in Oberösterreich vorstellbaren – Ort Rosental. Thomas und Ferdinand Goldberger waren die tragischen, den Fluch ihrer Väter weitertragenden Protagonisten in Roter Flieder (2012) und Schwarzer Flieder (2014). Alexander und Jakob Fischer sorgten für die biblisch-düsteren Perspektiven in Fremde Seele, Dunkler Wald (2016) und Wilderer (2022); Bert war dort der phantastische, Feld und Wald für krude Spekulationen verschleudernde Vater. Jan kennen wir als leichtfüßigen Journalisten aus Enteignung (2019).
Und sie alle kehren im neuem Roman Brennende Felder wieder, zentriert um die Wahrnehmungswelt Luisas, jene Halbschwester der Fischer-Brüder, die in Wilderer (vermeintlich) nur eine Nebenrolle spielte, jetzt aber eine zentrale Position einnimmt, sodass die Geschehnisse und Charaktere ein radikal verändertes Gepräge erhalten.

Überhaupt erstaunt es, wie sich im Fortschreiben (und -lesen) dieser Bücher ein immer vielgestaltigeres Mosaik der Figuren, ihrer Abhängigkeiten, Abgründe und Schönheiten ergibt – ein Mosaik, das zudem mit jeder neuen Erzählstimme seine Farbtöne, Tiefen und Konturen wechselt.
Luisa kehrt nach über 20 Jahren nach Rosental zurück. Und zwar mit jenem Mann, den sie die ersten 15 Jahre ihres Lebens für den Vater gehalten, der ihre später entbrannte Liebe zurückgewiesen, mit 20-jähriger Verspätung dann aber doch an die Tür ihrer Frankfurter Wohnung geklopft hatte, mit den Worten: „Ich will, was du willst“.

Diese auf den ersten Seiten knapp umrissene Konstellation bildet den Hintergrund, vor dem sich die reichlich pathologische, zuweilen auch ermüdende Gefühls- und Gedankenwelt der Protagonistin entwickelt, wobei wir zu Beginn noch manches über ihre Vorgeschichte erfahren: Luisa ist Mutter zweier Kinder, die bei den Vätern in Göteborg und Kopenhagen leben und zusehends weniger Interesse an den so seltenen wie spontanen Besuchen ihrer Mutter zeigen. Das Verhältnis zum jüngeren Bruder (Jakob), der das gewaltige Vermögen des Großvaters geerbt, dessen Großteil aber an Ex-Frau Katja hatte abtreten müssen, ist ebenso zerrüttet wie jenes zur Mutter, „und im Grunde war ihr auch nirgendwo sonst je einer nahe gewesen oder nicht länger als für einen Moment, eine Aufwallung, auch keiner der Männer, mit denen sie gelebt hatte, auch nicht die Väter ihrer Kinder, und manchmal dachte sie: nicht einmal die Kinder selbst.“ (S. 30f.)

Mit dem verspätet ihre Liebe erwidernden Stiefvater Bert, den sie Bob nennt, und auf dessen Drängen sie (von welchem Geld eigentlich?) die Villa über Rosental erwirbt, ist es für kurze Zeit anders. Sie fühlt sich zum ersten Mal gesehen, angekommen, geliebt. Bald aber verändert sich die Lage wieder, er begehrt sie nicht länger, widmet sich abends lieber der Lektüre von Landwirtschaftszeitungen und Heimatchroniken, die irgendwie zu tun haben dürften mit den nächtlichen Ausflügen, während welcher sie allein im Bett liegt, schlaflos oft und wartend.

Als sie sogar in der Weihnachtsnacht vergeblich auf ihn wartet, stellt sie ihn vor die Wahl: entweder nähme er sie mit auf diese Nachtaktionen, oder sie sei weg. Widerwillig geht Bob darauf ein; und so ziehen sie fortan gemeinsam los, schleichen im Dunkel über die Felder zu entlegenen Gehöften, durchstöbern Schuppen, Scheunen, Kellergewölbe. Ob es sich tatsächlich um von den Nazis auf deren Nachfahren gekommenes „Judengeld“ handelt, dem sie auf der Spur sind, interessiert Luisa nicht: „Es hatte sie noch nie beschäftigt, wo das Vermögen der Großeltern hergekommen war. Es war seine Sache; die eine Sache, die sein Leben bestimmte. Aber ihr gefiel die Leidenschaft, die dahintersteckte, die der Antrieb war. Und in die Nähe solcher Leidenschaft zu kommen, war schon fast wie sie selbst zu empfinden. Es war wie manchmal, wenn sie über ihrem Notizbuch saß und ihr ein guter Satz gelang. Da dachte sie: So müsse es sich anfühlen, wenn man immer schriebe, wenn man ein richtiger Schriftsteller wäre.“ (S. 71f.)
Über Wochen und Monate streifen sie zu zweit durch die Nacht – bis Luisa eines Abends zögert, ihr nichts Gutes schwant und sie Bob zurückzuhalten versucht. Der aber will davon nichts wissen und zieht alleine los. Luisa wartet – und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Oder wollen wir Zufall dazu sagen; oder Lenkung; gar Intrige?

Mit der wendungsreichen (und sogar die Geschehnisse früherer Bücher in neues Licht rückenden) Handlungskomposition erweist sich Kaiser-Mühlecker einmal mehr als Meister dramaturgischer Fügung. Diesen neunten Roman zeichnet besonders aus, dass er erstmals durchgängig der Perspektive einer Frau nachgeht, deren eigenartiger Mix aus Reflexionseifer, ästhetischer Hingabefähigkeit und niederträchtiger Egozentrik die Leserin zwischen Mitleid, Abscheu und Verwunderung changieren lässt. Die Neigung, Luisa als seelisch völlig korrumpierte, empathielose, herrsch- und sexsüchtige Intrigantin abzutun, wird gebrochen durch die in ihren schriftstellerischen Versuchen anklingende Erlösungsbedürftigkeit und die an den Leerstellen ihrer Gedanken ahnbar werdende Ohnmacht, das Kindheitstrauma in den Blick zu nehmen.

Ohne auf psychologisches Vokabular oder Stereotype zurückzugreifen, vermittelt die für den Autor typische personale Erzählform das Innenleben der Figur, indem Gefühle, Regungen, Absichten in Worte gefasst und mit der Beschreibung ihrer (damit mal mehr, mal weniger gut zusammenpassenden) Handlungen verwoben werden. Auffällig ist zumal, dass die Protagonistin immer wieder bedeutsamen existenziellen Fragen auf der Spur zu sein scheint, deren Triftigkeit aber schwindet, sobald sich zeigt, dass die aus Zeitschriften, Ratgebern oder Instagram-Posts zusammengetragen Hülsen gleichsam nur zufällig auch auf ihr Leben passen. Vorrangig darauf bedacht, wie sie auf andere wirke, was andere von ihr denken mögen, verkehren sich gerade jene Ideen, die auf Selbstbestimmtheit und Authentizität hindeuten, als Chiffren des völligen Missverstehens ihrer selbst.

Dass eine derart eklektische Persönlichkeit dahin gelangt, sich als Schriftstellerin zu versuchen, verleiht dem Buch eine eigentümlich selbstironische Pointe, zumal viele der Luisa in den Kopf gelegten poetologischen Reflexionen durchaus Anwendung finden auf das Schreiben Kaiser-Mühleckers: „Denn hin und wieder taten Naturbeschreibungen zwar not, das stimmte schon, das hatte sie festgestellt beziehungsweise zu dieser Einsicht war sie gelangt, was sie aber vordringlich interessierte, ob sie nun las oder selbst schrieb, das waren die unsichtbaren und namenlosen inneren Vorgänge, die sich in äußeren – im Tun und Lassen – spiegelten.“ (S. 188)

Und wenngleich Luisa meist bei solch allgemeinen Überlegungen verharrt und es daher auch fragwürdig bleibt, ob die avisierte „Briefträgergeschichte“ jemals wirklich Gestalt gewinnt, wirken etliche der sie in ihrer Verlorenheit zeigenden Aufwallungen als treffende Parabeln über das Schreiben; etwa, wenn ihr – ähnlich wie ihrem Bruder Jakob in Wilderer – so ist, „als wäre sie aus dem Dasein verbannt worden, ein Gefühl, das sie so lange begleitet hatte in ihrem Leben, das immer wieder aufgetaucht war oder nie ganz verschwunden, als hätte irgendjemand sie an ein Fenster gesetzt, von dem sie nicht mehr wegkam und von dem aus sie dem Leben nur zusehen durfte.“ (S. 227)

Nach Fremde Seele, Dunkler Wald (2016) und Wilderer (2022) kann man von Brennende Felder als dem Abschluss einer Trilogie über die Geschwister Fischer sprechen. In der Zusammenschau sehen wir ein Familienporträt, das die drei Figuren in ihrer unterschiedlich ausgeprägten Abhängigkeit von der übermächtigen Vergangenheit zeigt.

Da ist Alexander, intellektueller Priesterzögling, der dem Glauben entsagt und als leutseliger Soldat und Ministerialbeamter verheiratete Frauen verführt, bis er, fallengelassen, im Entsagen zu lieben lernt. Jakob ist der wortkarge, fleißig schuftende Erbe von Hof und Geld, den sein Schicksal (oder doch ein fremder Wille?) immer wieder zu Boden drückt und dessen (aus eigener Schuld wie auch durchs Gerede der Leute) verschüttete Seele im Umgang mit den Tieren ihre karge Schönheit ahnen lässt. Und zuletzt Luisa, die trotz ihrer Selbstsucht und Intriganz im Grunde vor sich selber davonläuft und die, bar jeder Demut und echten Interesses an den Dingen um sie, das Unheil über ihre Nächsten bringt.

Hinter diesen dreien steht die je nach Perspektive ihre Gestalt verändernde Figur des rastlosen Vaters, der den Hof durch bizarre Spekulationen zu Grunde richtet, dessen Skrupel dem großväterlichen Vermögen gegenüber aber auch den Blick öffnen auf das die Geschicke der Familie prägende Verbrechen der Ahnen. Was die Geschwister nämlich sämtlich eint, ist ihr Schweigen über das, was einst gewesen war. „Das hieß jedoch nicht, dass es die Vergangenheit nicht gab, sie lebte mit, sie lebte weiter, als Unausgesprochenes, gegenwärtig wie ein Geruch, wie Licht oder Dunkelheit.“ (Fremde Seele, dunkler Wald, S. 161)
Und die Größe der Bücher Kaiser-Mühleckers liegt nicht zuletzt darin, diese verspätete, hinter Worten und Taten sich haltende Wirkmacht des Waltens der Vorfahren spürbar, ja triftig, seltsam schicksalsträchtig werden zu lassen.

Franz Schörkhuber ist als Lektor für deutsche Sprache und Literatur in Bratislava sowie als Lehrbeauftragter am Wiener Institut für Philosophie tätig.

Reinhard Kaiser-Mühlecker Brennende Felder
Roman.
Frankfurt/Main: S. Fischer Verlage, 2024.
267 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag.
ISBN 978-3-10-397570-3.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor sowie einer Leseprobe

Homepage von Reinhard Kaiser-Mühlecker

Rezension vom 26.09.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.