#Prosa

Trotta und ich

Christoph W. Bauer

// Rezension von Birgit Schwaner

Ob Joseph Roth oder Julio Cortázar in Paris, Emmanuel Bove in Tulln: Christoph W. Bauer porträtiert Schreibende anhand der Orte, an denen sie – oft als Fremde – lebten und fragt nach der Existenz von Heimat in einer zerrissenen Welt.

„Der Autor – ein Spurensucher zwischen den Zeiten, den Zeilen“, denkt die Rezensentin spontan, wäre vielleicht eine passende Überschrift für diese Besprechung. Schließlich beinhaltet Trotta und ich acht, zwischen 2008 und 2024 verfasste, bisher verstreut veröffentliche und für dieses Buch überarbeitete literarische Reportagen und biografische Essays (d. h. nicht-fiktionale Literatur), in denen wir Christoph W. Bauer im beginnenden 21. Jahrhundert u. a. durch Paris oder Lyon und auf Zugfahrten ins ehemalige Galizien oder auch nur nach Tulln begleiten, auf der Spur einzelner Schriftsteller:innen, die dort gelebt und Literatur geschaffen haben – manchmal nur wochenlang, manchmal für Jahre. Denn nicht wenige von ihnen waren aufgrund ihrer jüdischen Herkunft in den 1930er Jahren der Verfolgung durch Hitlers Schergen ausgesetzt, so dass für sie selbst eine Stadt wie Paris, die seit dem 19. Jahrhundert Künstler aller Sparten magnetisch anzog und inspirierte, zu einer Station auf der Flucht wurde und, bis zum Einmarsch der deutschen Wehrmacht (im Juni 1940), zum Ort des Exils.

Paris? Bien sur. Der Schauplatz von Christoph W. Bauers Roman Niemandskinder (2019) spielt auch in diesem Buch eine wichtige Rolle, obwohl er – anders als im Klappentext suggeriert – nicht im Mittelpunkt steht. Denn hier geht ein Autor als leidenschaftlich Lesender durch Paris und sieht dabei das Paris Paul Nizons, das Paris Cortázars, das der Marguerite Duras, das von Paul Celan, Robert Desnos usw. Die Topografie der Stadt erschließt sich sozusagen unter der Optik der Literatur, deren Schöpfer und Schöpferinnen den Weg vorgeben. Ein Blickwinkel, der sich besonders in Je suis en route – Pariser Depeschen (ursprünglich für die Feuilletonbeilage Album der Tageszeitung Der Standard verfasst) zeigt:

In acht Abschnitten, jeweils beginnend und abschließend (d. h. rhythmisiert) mit dem Satz „Je suis en route“, eilt – in der Sprache: leichtfüßig – das kenntnisreiche Autoren-Ich über Boulevards und Straßen, von einem literar- und oft auch zeithistorischen Schauplatz zum nächsten: vom Hôtel Lutetia am Boulevard Raspail, in dem die vor dem Nationalsozialistischen Terrorregime geflüchteten deutschen Oppositionellen zusammentrafen, unter ihnen Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger … zum Literatencafé „La Closerie des Lilas“, wo man Ernest Hemingway, André Breton oder Blaise Cendrars begegnete … in die Rue des Favorites, zur Wohnung von Samuel Beckett, aus der er 1942 gerade noch vor der Gestapo flüchten konnte (Beckett war Mitglied der Résistance), und weiter … So rasch die Straßen und Namen, die biografischen Schnipsel einander ablösen, sich miteinander verbinden: In jeder Zeile spürt man lesend die Empathie, die Begeisterung, das Wissen und Interesse Christoph W. Bauers, der auf wenigen Seiten einen facettenreichen, lebhaften Einblick in – sozusagen – sein „literarisches Paris“ gibt. Mit jedem weiteren auratischen Namen, jeder Anekdote, jedem assoziierbaren Werk, das er – auf eigene Weise – beschreibt, benennt, gewinnt die Vorstellung „Paris“ an Komplexität. Schließlich existieren Städte in Köpfen und werden erst durch die Erzählungen der – und über die – Menschen, die in ihr lebten und leben, gegenwärtig.

Womit wir wieder zum Spurensuchen kommen. Und zum Lesen. Von Büchern wie Städten. Zur Sprache, in der das Wissen, die Erzählungen und Berichte einer vergangenen ebenso wie der jetzigen Zeit aufgehoben sind (und beides aufeinander einwirkt). Zur Sprache als einem Nirgends-und-überall-Ort, der für die von Christoph W. Bauer Porträtierten (inklusive des Autors selbst), ja, für Schreibende überhaupt, die ihr Leben der Literatur widmen, oft als einzige Heimat bleibt – nicht nur in Zeiten von Krieg und Verfolgung, sondern auch inmitten einer prinzipiellen, existentiellen Unbehaustheit.

Mehr als deutlich wird das im Herzstück dieser Zusammenstellung: dem Beitrag Im Blick versunkene Landschaften (2010 für das Projekt „mitSprache unterwegs“ der österreichischen Literaturhäuser entstanden), der mit 53 Seiten fast ein Drittel des Buches ausmacht und auf den sich auch der Titel Trotta und ich bezieht. Natürlich geht es um Joseph Roth.
„Heute spaziert Trotta plötzlich wieder aus dem Bücherregal und baut sich vor mir auf. Ob ich mich immer so bitten lasse, schnauzt er mich an. (…) Er wolle endlich vor seinen Schöpfer treten“ (S. 7), erweckt Christoph W. Bauer mit den ersten Sätzen den Protagonisten Franz Ferdinand von Trotta aus Roths 1938 im Pariser Exil entstandenen Roman Kapuzinergruft erneut zum Leben in litteris.

Trotta, „der Spartaner unter den Österreichern“ (S. 12), wird das Autoren-Ich zu Orten aus Roths Biografie begleiten, nach Paris – Ausgangspunkt: ein Café im Quartier Latin, über dem Roth bis zu seinem Tod 1939 logierte – Brody, Lemberg u. a. Trotta – und ein wenig später auch der Oberleutnant und Kriegsheimkehrer Tunda aus Roths Flucht ohne Ende – ist also als fiktiver Reisegenosse dem Rechercheur zur Seite gestellt: ein feiner Kunstgriff, der die Wechselwirkung zwischen, salopp gesagt: Leben, Lesen und Schreiben, einmal mehr spiegelt und neben dem Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Gegenwart ein weiteres zwischen Fiktion und Realität aufbaut.

Trotta wie Tunda kennzeichne, so Christoph W. Bauer „ein Blick, der im Rücken der Augen nach Landschaften sucht“ (S. 14), die er nirgends mehr finden kann. Landschaften, Seelenlandschaften, versunkene, verlorene, geraubte Welten. Heimatlosigkeit, im konkreten wie im umfassenden Sinn. Dem Blick seiner beiden Protagonisten entsprechen die Worte des Exilanten Joseph Roth: „Das Krepieren dauert länger als das Leben“, dem Blick Joseph Roths auf einem Foto – „die Augen etwas zusammengekniffen, sein Kopf, geduckt, wie in Abwehr, zwischen den Schultern“ (S. 16) – entspricht der Blick eines jüdischen Zeitzeugen in Tel Aviv …
Als Mitglied eines Projektteams (mit u. a. dem Zeithistoriker Horst Schreiber) hatte Christoph W. Bauer ihn und andere im März 1938 aus Innsbruck Vertriebene, die in Israel und England eine zweite Heimat fanden, interviewt. Wobei „Heimat“ das falsche Wort ist, ein Wort, das in diesem Text über Joseph Roth – der sein Zuhause im alten Vielvölkerstaat Österreich sah, d. h. einem von der Landkarte verschwundenen Land, einer verschwundenen Kultur – immer wieder, aus den verschiedensten Perspektiven und mit Bezug auf die Migranten und Flüchtlinge des 21. Jahrhunderts, hinterfragt wird. (Bezeichnenderweise trägt auch C. W. Bauers Buch, das 2018 aus einigen der Interviews mit den jüdischen Zeitzeugen entstand, den Titel: Die zweite Fremde.)

Das Thema der Heimat bzw. Fremde durchzieht als roter Faden (und offene Frage), mal klar zutage tretend, mal unterschwellig, die Texte in Trotta und ich. Ob die viel zu unbekannte, 1910 geborene jiddische Dichterin Rajzel Zychlinski (von der man gerne mehr gelesen hätte), die sich als junge Frau im Schtetl einer kleinen polnischen Stadt so sehr für Baudelaire begeisterte, dass sie sich Französisch beibrachte, ob der in Berlin geborene, vor den Nazis nach London geflüchtete, und in Lienz begrabene Sonett-Dichter Peter Karl Höfler (einer „der großen Vergessenen der deutschsprachigen Literatur“ schreibt C. W. B. auf Seite 103), der in seinem Pseudonym Jesse Thor zwei Gegensätze (Christentum und germanische Mythologie) zusammenspannte, ob der bekannte Romancier Emmanuel Bove, der nach Tulln reiste, um dort schreiben zu können … sie alle schufen sich, bei aller Zerrissenheit der Welt, ein Zuhause in der Literatur. Sofern die Welt – mit Exil, Verfolgung, Krieg, Krankheit und Armut – das zuließ. Christoph W. Bauer hat der Erinnerung an sie ein Refugium bereitet, in der Gegenwart, die in seinen Texten mit wachem Blick sich immer wieder zurückwendet.

Aber wer Spuren sucht, stößt unweigerlich auch auf die, die nicht mehr vorhanden sind. Und stößt so auf sich selbst, als Suchenden. In diesem Sinn ließe sich verstehen, dass Christoph W. Bauer im letzten Text Mir steckt die Gegenwart im Hals, einer Selbstauskunft, sich selbst als „Spurenverwischer“ (S. 151) bezeichnet. Einer Spur folgen, bedeutet, eine andere vernachlässigen. Jede Spur ist ein Stück weit die eigene. Auch die durch Paris, das nun, am Ende, ganz das Paris des Christoph W. Bauer ist. Der von sich sagt, was seine Texte beweisen: „Die Spuren, die ich verwischt und wieder freigelegt habe, sie führen zu Orten und Menschen, weil Literatur für mich ein Spiel mit Möglichkeiten ist.“ (S. 159)

 

Birgit Schwaner, geboren in Frankenberg/D und seit 1984 in Wien lebend, studierte Germanistik und Philosophie; Sie ist freie Autorin und Journalistin, seit 1994 Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien, seit 2000 Hörspiele im ORF, ab 2007 Bücher. Auszeichnungen (Auswahl): Siemens Literaturpreis, Österreichisches Staatsstipendium für Literatur, Stipendium der „Stiftung Künstlerdorf Schöppingen“ (Nordrhein-Westfalen); Werkzuschuss aus dem Jubiläumsfonds der Literar-Mechana; Österreichisches Projektstipendium für Literatur. Zuletzt erschienen: Alice und Ich. Eine Erzählung (Klever, 2023) Podium Porträt Nr. 108: Birgit Schwaner. Gedichte und Flaschenposten (hg. von Erika Kronabitter, Literaturkreis Podium, 2020) und Jackls Mondflug. Erzählung (Klever, 2017).

Christoph W. Bauer Trotta und ich. Pariser Depeschen, Reportagen, Porträts
Innsbruck: Haymon Verlag, 2024.
176 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-7099-8227-3.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor sowie einer Leseprobe

Rezension vom 08.10.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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