Es mag nicht für alle eine Empfehlung sein, wenn eine Stadt vor allem der Gräber wegen einen Besuch wert ist. Im Falle von Tarquinia, 90 Kilometer nordöstlich von Rom gelegen, trifft es zu. Promeniert man durchs centro storico, sieht man schmale Gassen, typisch für die Hügeldörfer Viterbos, und Farben, die ebenfalls typisch sind, Hellbraun, Dunkelbraun, Ocker.
Doch die Attraktion ist die Monterozzi-Nekropole aus etruskischer Zeit, auf etwa 1000 v. Chr. datiert, mit Hunderten von Grablegen, die mehrheitlich mit Fresken dekoriert sind. Diese zeigen traditionelle Aktivitäten der Etrusker, dieser im Dreivierteldunkel der Geschichte verborgenen Ethnie. Sie umgibt bis heute ein Anhauch von Geheimnis und Mysterium, und nach wie vor ist nicht klar, woher sie ursprünglich kamen. Es sind nur wenige längere Schriftstücke in etruskischer Schrift bekannt. Die erhaltenen Grabstätten sind jene der aristokratischen Oberschicht. Sie dienten der Selbstdarstellung und der imposanten Spiegelung vom Tod im Leben und dem Leben nach dem physischen Erlöschen.
Will nun der in Lauterach geborene Udo Kawasser, der in Innsbruck und Wien ausgebildete Romanist, Tänzer und Poet als Orpheus voralbergensis hinabsteigen ins Reich der Toten? Doch bereits mit dem zweiten Motto wählt er sich Lukrez, den römischen Dichter, der mutmaßlich zwischen 99 und 94 v. Chr. geboren wurde und zwischen 55 bis 53 v. Chr. starb, und dessen De rerum natura (Über die Natur der Dinge) als Leitsterne des Gehens:
„ein gehen das sich
in den weg denkt
während die erde
das ihre tut
auf ihrer bahn
um die sonne“ (S. 14)
Nun ist das Totengespräch ein literarisches Genre mit langer Historie. Es wurde in der Antike begründet. Die Nekrikoi dialogoi (Totengespräche) des Lukian von Samosata (2. Jhd. n. Chr.) wurden im deutschen Sprachraum durch die Übersetzung des Humanisten Johannes Reuchlin im Jahr 1495 bekannt, später von Christoph Martin Wieland ein weiteres, wirkmächtigeres Mal ins Deutsche übertragen; im 19. und 20. Jahrhundert gab es literarische Totengespräche von Grillparzer, Fritz Mauthner, Arno Schmidt.
In Kawassers Ache. Ein Versuch, erschienen 2018 bei Sonderzahl, hieß es: „die Wiederholung wie die Rückkehr ist eine Übung in Genauigkeit. nichts erschöpft sich in einem Blick.“ Im Folgeband Ried Sonderzahl, 2019) lautete ein Signalsatz: „Das Ried ist ein Geisteszustand.“ 20 Seiten später dann: „heute ist das Ried samtblau mit dem Krummschnabel und den Krallen der Akelei über sich selbst und seine Regungen gebeugt.“
Das Sehen ist auch tarquinia – gespräche mit schatten von Anfang an eingeschrieben. Der Auftakt des ersten von insgesamt sechs CANTOs, die in sechs Teile unterteilt sind, die immer mit denselben sechs Wörtern – jedoch immer in anderer Reihenfolge – übertitelt sind, heißt ocker und handelt vom Ankommen, Aussteigen, vom Zurückdenken an einen bestimmten Menschen. Dann folgt Bewegung, „und uns schritt / für schritt / in den lauf / der tage dreht / in dieses gleichgültige / gleißen das einst / ein versprechen / auf zukunft enthielt“ (S. 14). In perlenden Wort-Glissandi geht es dann um das Einrichten, das Erwartete und das Unerwartete, die Macht der Erinnerung, um „granulierenden schlaf“ (S. 17), draußen das Tyrrhenische Meer – Tarquinia ist auch Küstenbadeort – , drinnen Rückkehr und Ankommen „in den dingen“ (S. 18).
Sinnlich geht es in CANTO II weiter: ein „eintauchen in blau“, „hautfühlung“, „vorgeburtliches schweben“, mit „akustischem schnee“ (S. 32), aber auch mit „netzfrequenzen“ und „störsignalen“. Diese Irritationen lockern das Netz der Idylle. Schließlich der Abstieg in die Grabkammern, „in die tomba dei baccanti / eingekapselt / in der schimmelfeuchte“ (S. 35) und das Sinnieren über Vanitas und Flüchtigkeit.
Intensität und Momentfülle, sich spiegelnd in Zivilisationsdingen des „produktlebenszyklus“ (S. 45), führt zu Reflexionen und zu einer Sprache „mit der wir / gemeint sind.“ (S. 46)
In leidenschaftlichen Sprachbögen – und dabei durchgehend in Kleinschreibung – behandelt Kawasser Sehnsucht und Ferne, Verlust und Distanz, den einen Moment, der bereits wieder zerronnen ist. So gerät dieses elegante, an der literarischen Hochmoderne geschulte Poem zum barocken Werk, ja zum Gesamtkunstwerk. Denn beigegeben sind dem Text vierfarbig gedruckte Rorschachtest-Bilder, Klecksographien, was poesiehistorisch einen neuen Horizont eröffnet und einen Bogen schlägt zu Peter Rühmkorfs Kleiner Fleckenkunde von 1988 und zu des schwäbischen Romantikers Justinus Kerners Klebealben, Collagen und Klecksografien. So gerät von Neuem Materialität in diesem schönen Band in den Blick. Die Materialität des Wortes. Und die Materialität der Sprache im Zusammen- und Widerspiel mit Kunst, Leben, Tod.
Alexander Kluy ist Autor, Kritiker, Herausgeber, Literaturvermittler. Zahlreiche Veröffentlichungen in österreichischen, deutschen und Schweizer Zeitungen und Zeitschriften. Editionen, zuletzt Konrad Engelbert Oelsner Luzifer oder Gereinigte Beiträge zur Französischen Revolution (Limbus, 2024) und Felix Dörmann Jazz (Edition Atelier, 2023). Zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt in der Edition Atelier die Bände Das Kreuzworträtsel und seine Geschichte (2024), Der Regenschirm. Eine Kulturgeschichte (2023) und Giraffen. Eine Kulturgeschichte (2022) sowie im Corso Verlag Vom Klang der Donau (2022).