#Roman
#Debüt

Luzia. Kindheit zwischen zwei Kriegen

Daniel Stögerer

// Rezension von Sabine Dengscherz

In seinem Debütroman Luzia. Kindheit zwischen zwei Kriegen erzählt Daniel Stögerer aus der Perspektive eines kleinen Mädchens von den späten 1920er und frühen 1930er Jahren in Österreich: von der verzweifelten Arbeiterschaft in der Stadt, den ärmlichen Bauern auf dem Land – und der unbeholfenen Sprachlosigkeit der Erwachsenen, die nicht wissen, wie sie den Kindern erklären sollen, warum die Welt so ist, wie sie ist.

Der Krieg ist vorbei, aber seine Folgen sind allgegenwärtig: Auf der Straße erfrieren Obdachlose und in den Häusern muss man schauen, wie man über die Runden kommt. Es ist keine gute Zeit für ein kleines Mädchen, das als „lediges Kind“ auf die Welt gekommen ist. Angelehnt an die Eckdaten der Biografie seiner eigenen Urgroßmutter schildert Daniel Stögerer die Geschichte der kleinen Luzia, die zunächst in Wien-Favoriten bei einer Ziehmutter aufwächst und später bei einer Bauernfamilie in Niederösterreich.

Kinder werden hin und her geschoben, irgendwo abgestellt, wo man sie einigermaßen gut aufgehoben meint. Ein Kind braucht ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen, für sehr viel mehr reicht es dann oft nicht. Kinder sind genügsam – und müssen es sein. Luzia kennt es nicht anders. Barfuß geht sie über die Troststraße in Wien-Favoriten, das Gefühl des festen Lehms an den Füßen mag sie eigentlich, ebenso wie den Kater Sultan, der durch die Gegend streunt, und die Kapskutscher mit ihren Pferden, denen sie begegnet, wenn sie Besorgungen beim Greißler macht (wozu braucht die Frau Tóth nur all diese Kräuter?). Die „Elektrische“ hingegen, die mag sie nicht, vor diesem Ungetüm hat sie Angst, schon lange, bevor die Straßenbahn einmal ein Kind überrollt, den Jüngsten aus der Hausmeisterbande.

Geredet wird über all das nicht viel mit den Kindern. Das Denken soll man den Pferden überlassen, die haben größere Köpfe, ist eine der vielen nichtssagenden Antworten auf ungebetene Fragen. Es gibt so einiges, über das man lieber Stillschweigen bewahren sollte. Etwa darüber, was Luzias Ziehmutter, die Frau Tóth, so macht, wenn sie diskret Besuch empfängt. Kleine Kinder haben dann im Haus nichts verloren, und so zieht der Untermieter mit Luzia durch die Straßen, nimmt sie manchmal mit in ein Vorstadtwirtshaus, zu den Kameraden vom Schutzbund; da haben die beiden dann selbst ein Geheimnis, die Frau Tóth darf nichts wissen von den Wirtshausbesuchen, und vom Schutzbund hält sie auch nicht viel. Hat man immer noch nicht genug von Waffen und Uniformen?

Die kleine Luzia fragt sich derweil, ob es im Himmel ein Postamt gibt. Wahrscheinlich gibt es aber keines, sonst hätte ihr die Mutter sicher schon einmal einen Brief geschrieben. Im Himmel muss die Mutter sein, da ist Luzia überzeugt, sonst würde sie doch bei ihr wohnen können und nicht bei einer Ziehmutter. Die Frau Tóth hat ihr nicht viel erklärt, sie weiß wohl nicht recht, wie. Genauso wenig wie der Onkel, der hin und wieder kommt. Und eines Tages steht dann eine fremde Frau vor der Tür und schielt Luzia schüchtern an. Nein, im Himmel war die Mutter nicht, nur in der Arbeit, in einem Hotel im Salzkammergut. Sie weiß nicht recht, was sie der Kleinen sagen, wie sie ihr verständlich machen soll, warum sie sich nicht besser um sie kümmern kann, nicht jeden Tag jedenfalls. Nur aus dem Hintergrund immer wieder. Und manchmal schickt sie den Onkel.

Er ist auch da an dem Tag, als der Justizpalast brennt und auch sonst alles drunter und drüber geht in Wien. Im Großen wie im Kleinen. Die Frau Tóth ist aufgeflogen als Engelmacherin, Luzia kann nicht länger bei ihr bleiben und man bringt sie auf einen Bauernhof aufs Land. Dort ist alles fremd, Luzia hat keine Ahnung vom Landleben, vermisst die Stadt, die Troststraße und den vertrauten Lehm unter ihren Füßen. Und sie vermisst die Frau Tóth, aber im Himmel gibt es eben kein Postamt, von der Frau Tóth kommt kein Brief, und auch sie selbst kommt nicht wieder.

Der Roman erzählt eine Geschichte vielfacher Überforderung: Was tun mit einem Kind, für das es keinen Platz zu geben scheint in den Wirren der Zwischenkriegszeit? Mit dem Kind einer schielenden Sechzehnjährigen, die keine Schönheit ist und selbst das Gefühl hat, dass niemand sie will? Genauso wie niemand die Arbeiter will, die in Scharen in die Dörfer strömen, weil sie in der Stadt keine Arbeit mehr finden und nun versuchen, sich auf den Höfen zu verdingen, für einen Schlafplatz und ein Stück Brot. Die Heimwehr marschiert für die Heimat auf; für Luzia ist ,Zuhause‘ ein unbekannter Sehnsuchtsort. Beim Lesen erscheint einem das eine oder andere Bild wie aus der Alpensaga (von 1976 bis 1980 ausgestrahlte ORF-TV-Serie über das Leben in einem oberösterreichischen Dorf von 1900 bis 1945 / Buch: Peter Turrini und Wilhelm Pevny / Regie: Dieter Berner) – es ist eine Welt, in der die gegeneinander ausgespielt werden, die eigentlich zusammenhalten müssten. Arm sind sie alle miteinander, die Bauern und die Arbeiterschaft.

Zuweilen erscheinen die Erwachsenen nicht weniger hilflos als das Kind. Das, was auf den ersten Blick als Lieblosigkeit erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Unvermögen, halb persönlich, halb strukturell, gefestigt durch anerzogene Härte. Anpassen muss man sich, nicht jammern. Die Leute geben, was sie können. Allzu viel ist das nicht, aber für einen kleinen Lichtblick, für ein bisschen Hoffnung reicht es manchmal doch. Dafür, dass ein kleines Kind sich ein kleines Bisschen weniger ungeliebt fühlt. Bis zur nächsten Enttäuschung.

Daniel Stögerer gelingt das Kunststück, eine über weite Teile recht traurige Geschichte einfühlsam zu schildern, ohne zu beschönigen, aber auch ohne die Leser:innen deprimiert zurückzulassen. Das mag daran liegen, dass er mit einem gewissen Augenzwinkern erzählt, wie Kinder sich die Welt zusammenreimen, die ihnen die Erwachsenen nicht erklären können. Oder auch daran, dass keine Urteile gefällt werden. Die Erwachsenen rund um Luzia sind weder gut noch böse, sie schlagen sich selber irgendwie durch, und das kleine Kind läuft nebenbei mit. Die persönliche Geschichte und die Geschichte Österreichs sind verflochten in diesem Roman, der die Jahre 1926 bis 1933 umfasst, einige prägende Jahre in der Geschichte der Hauptfigur – und in der Geschichte des Landes.

 

Sabine Dengscherz, geb. 1973 in OÖ, Autorin, Wissenschaftlerin, Universitätslektorin. Studium der Germanistik, Kommunikationswissenschaft und Hungarologie, Venia für Transkulturelle Kommunikation und Mehrsprachigkeit. Forschung zu Schreibprozessen und Kulturbegriffen. Mitglied der GAV. Lebt in Wien und Dénesfa. https://www.dengscherz.at/

 

Daniel Stögerer Luzia. Kindheit zwischen zwei Kriegen
Roman.
Graz: Edition Keiper, 2024.
136 Seiten, Hardcover.
ISBN 978-3-903575-24-0.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor sowie einer Leseprobe

Rezension vom 02.01.2025

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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