#Roman

Nur nachts ist es hell

Judith W. Taschler

// Rezension von Ursula Ebel

Judith W. Taschler hat ein Buch über ein selbstbestimmtes Frauenleben im 20. Jahrhundert geschrieben und damit ein Plädoyer auf die unbändige Lust zu erzählen vorgelegt.

„Glaub mir, ich bin nicht nahe am Wasser gebaut“ (S. 8), versichert die Ich-Erzählerin Elisabeth gleich zu Beginn ihres umfassenden Rückblicks auf ihr eigenes, höchst ereignisreiches Leben. Dass diese Selbsteinschätzung zutreffend ist, wird die Leserin nach den kommenden Romanseiten jedenfalls bekräftigen können. Für die Schilderung des Lebensberichts wählt Taschler eine interessante Herangehensweise: Auf einigen wenigen Seiten umreißt die Ich-Erzählerin die wichtigsten Ereignisse ihres Lebens am Beginn des Romans, ein Ritt durch die letzten Jahrzehnte. Alles Wesentliche ist damit festgehalten, nun kann sie sich in Ruhe auf alle Details besinnen.

Erzählte Taschler in ihrem letzten Roman Über Carl reden wir morgen (2022) die Geschichte der Mühlviertler Zwillingsbrüder Carl und Eugen Brugger, fokussiert sie sich nun auf deren Schwester Elisabeth Brugger. Zwei Tage vor dem Attentat in Sarajevo auf den österreichischen Thronfolger Rudolf legt Elisabeth im Lyzeum in der Wiener Rahlgasse die Matura ab, um sich bald darauf mit der Erlaubnis ihrer Eltern als Lazarettschwester zu melden. Die intensiven Erfahrungen in den Spitälern und Lazaretten des Ersten Weltkriegs hinterlassen einen derart prägenden Eindruck, dass sie sich für das Studium der Medizin entscheidet. Dies gelingt durch den starken Einsatz eines ihrer Brüder, denn die Familie ist keinesfalls sofort einverstanden damit.

Taschlers Schilderungen sind stets nicht nur nahe an der erzählenden Person und ihren unmittelbaren Gefühlen, sondern sie fangen auch den jeweiligen Zeitgeist ein. Etwa indem sie von den Vorzügen des Gymnasiums in der Rahlgasse für die junge Schülerin erzählt, da es sich um das erste Gymnasium für Mädchen in Wien handelte. Während der Weg für eine höhere Ausbildung zumindest für manche Mädchen eine Möglichkeit darstellte, war es um die Verhältnisse für Frauen an den Universitäten schlecht bestellt. „Man duldete die Frauen bei den Kursen und den Übungen, um nicht zu sagen: man ignorierte sie. Und wenn man sie beachtete, schwang oft Geringschätzung mit, Unfreundlichkeit gepaart mit zynischen Kommentaren. […] Bei den Prüfungen hingegen schenkte man den Frauen plötzlich besonders viel Aufmerksamkeit, sie wurden strenger beurteilt als die männlichen Kommilitonen.“ (S. 96) Eine Stärke von Nur nachts ist es hell liegt im untrüglichen Gespür für Geschlechterungerechtigkeiten, sei es in Bildungseinrichtungen, im Beruf oder bei der medizinischen Versorgung.

Von der harten Arbeit der Engelmacherinnen

Als eine der wenigen niedergelassenen Ärztinnen Wiens wird Elisabeth auf die desaströsen Bedingungen von schwangeren Frauen aufmerksam, die ihre Babys nicht haben wollen bzw. nicht ernähren können und teils unter lebensbedrohlichen Umständen Abtreibungen durchführen lassen müssen. Nach ernsthaften Vorbehalten führt sie im Geheimen einige Abtreibungen durch, leitet aber vor allem künftige Engelmacherinnen an. Auch an dieser Stelle ist Taschler gut informiert und lässt die Ich-Erzählerin kleine Exkurse über das Strafausmaß für Schwangerschaftsabbruch in der Habsburgermonarchie einbauen.

Doch wem erzählt die alt gewordene Frau überhaupt ihre Geschichte? Generationenübergreifend berichtet Elisabeth der Tochter ihrer Nichte, die nur über einen Teil der eigenen Familiengeschichte Bescheid weiß. Langsam tritt die Wahrheit zutage: Was sind die wahren Beweggründe für die Rückkehr des Bruders aus den USA? Wer ist der schweigsame Knecht, der nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem elterlichen Sägewerk von der Familie aufgenommen wird? Warum fährt einer von Elisabeths Brüdern heimlich nach Linz, als eine jüdische Familie im Keller des Familiensitzes in Mostfässern versteckt werden soll?

Eine Besonderheit von Taschlers Roman liegt daran, dass eine Vielzahl von Lebensgeschichten Platz findet, dennoch werden die einzelnen Protagonist:innen mit ausreichend Aufmerksamkeit bedacht. Sorgfältig bereitet das Buch etwa die Geschichte von einem von Elisabeths Brüdern auf: Eugen, der in die USA auswanderte. Sein Werdegang wird den Leser:innen durch eingefügte Briefe unmittelbar zugänglich.

„Es ist unglaublich, …“

Nur nachts ist es hell verfügt über eine gefasste, tatsächlich nüchterne Erzählerin, die den Überblick trotz der Vielzahl an Figuren und emotional aufrüttelnden Themen behält. Ihre Nüchternheit hält sie nicht davon ab, wortreich zahlreiche Geschichten zu einem großen Generationenporträt zu verweben. Dabei fokussiert der Roman auf unterschiedliche Schicksale von Frauen.

Taschlers Herangehensweise erfrischt den Blick auf das 20. Jahrhundert, denn sie verbietet die Einengung auf ein Milieu. Etwa als sie eine Abtreiberin zu Wort kommen lässt, die der bürgerlichen Ärztin vorwirft: „Und die Schmutzarbeit überlässt du anderen.“ (S. 147) Wenngleich sich die Ereignisse im neuen Roman Taschlers teilweise überschlagen, lernen wir aus Nur nachts ist es hell, dass sich hinter der Fassade so mancher Familie wohlgehütete Geheimnisse und unerwartete Courage verbergen können.

 

Ursula Ebel, geb. 1986 in Lilienfeld/NÖ, studierte Vergleichende Literaturwissenschaften und Gender Studies in Wien, Paris und Berlin; seit 2011 Mitarbeiterin und seit 2014 stellvertretende Leiterin der Österreichischen Gesellschaft für Literatur; Literaturkritiken für u. a. Die Presse, Buchkultur und das Magazin des Literaturhaus Wien.

Judith W. Taschler Nur nachts ist es hell
Roman.
Wien: Zsolnay, 2024.
320 Seiten, Hardcover.
ISBN 978-3-552-07507-8.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autorin sowie einer Leseprobe

Homepage von Judith W. Taschler

Rezension vom 18.11.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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