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Du siehst Gespenster und nichts in der Minibar

Lucas Cejpek

// Rezension von Judith Leister

In seinem Essayband wandelt Lucas Cejpek durch das Wien der Corona-Zeit und durchforstet die Moderne auf Gespenster und sonstige Bizarrerien.

Es ist schon unheimlich, wie schnell wir vergessen, auch in Sachen Corona. Wer könnte zum Beispiel noch exakt sagen, was die „AHA-Regel“ war? Und wer erinnert sich an die „2G-Regel“?

Dabei haben allein in Deutschland Millionen Menschen fast dreieinhalb Jahre lang solchen oder ähnlichen Vorschriften Folge geleistet. Diejenigen, die ausscherten, traf eine Art gesellschaftlicher Bannfluch, mindestens aber die Wut der Passanten. Auf der Straße wurden vorbeihechelnde Jogger von Personen mit oder ohne Vorerkrankungen quasi mit Blicken stranguliert. In Supermärkten ging man sich an die Gurgel, weil beim Hintermann die Maske schief saß. Geradezu systemisch lahmgelegt war die Kultur. Museen mussten geschlossen bleiben und Theater zwangsweise pausieren. Wenn man Glück hatte, wurden einsame Dichterlesungen vor verwaisten Zuschauerrängen ins digitale Nirwana übertragen. Das Publikum war in dieser Zeit ganz unsichtbar.

Im Buch Du siehst Gespenster und nichts in der Minibar des Wieners Lucas Cejpek, Jahrgang 1956, findet sich allerdings nur wenig von der Wut, die viele Zeitgenossen bei der Erinnerung an die Atmosphäre der Corona-Zeit überkommt. Das kollektive Trauma, das Corona hinterlassen hat, kommt bei Cejpek nämlich nur am Rande vor. Stattdessen bietet sein Essay eher breit gestreute Beobachtungen und Reflexionen. Der Autor selbst wirft hier nur ein, deutet an, spielt über die Bande und lässt zahlreiche Leerstellen. Ziel ist es wohl, dass der aufgeklärte Leser im verschlungenen Assoziationsraum dieses Buches Verbindungen selbst aufspürt und damit idealerweise nicht nur am Diskurs teilnimmt, sondern diesen sogar fortspinnt.

Um ein Corona-Tagebuch handelt es sich bei diesem Buch also nicht, obwohl sich die leere Minibar des Titels durchaus auf den fehlenden Alkoholnachschub in Hotels der Corona-Zeit bezieht. Stattdessen wandert Cejpek mit der Gelassenheit eines Diogenes durch das kulissenhaft gewordene Wien, erzählt ein bisschen Mikrogeschichte und betrachtet die darniederliegende Kulturszene, um die Kunst und Kultur, die in seiner persönlichen Erinnerung aufbewahrt sind, umso stärker zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen.

Neben meist kurzen Sequenzen berichtet er etwas ausführlicher von einem Museumsbesuch, bei dem er wegen des aufgezwungenen Time Slots fast einen Freund verpasst hätte, wenn der Museumswärter nicht – blinzelblinzel – weggesehen hätte.
Der Leser muss selbst herausfinden, dass ein Abschnitt über Drehkreuze als „Vereinzelungsmaschinen“ indirekt auf die Pandemiemaßnahmen verweisen könnte. Durch „AHA“ und „2G“ sollte eine gesellschaftliche Separation erreicht werden – während die Kunst bekanntlich das Ziel hat, Menschen miteinander in Kontakt zu bringen. Selbst wenn die Menschen so weit voneinander entfernt sind wie der vielleicht längst verstorbene Autor eines Buchs und sein geneigter Leser.

Angesichts des gespenstisch leeren Wien erscheint es passend, dass Geister und ‚übernatürliche‘ Phänomene das zweite zentrale Thema in Cejpeks Essay sind: klassische Theatergespenster wie Hamlets Vater in Shakespeares Drama, historische urban legends wie der sagenhafte Basilisk in der Wiener Schönlaterngasse 7 oder auch politische Phantome wie Marx’ und Engels’ „Gespenst des Kommunismus“. Cejpek zeigt dabei eine besondere Obsession für Dinge, die im Halbdunkel der Geschichte liegen, die gestern oder vorgestern noch Schlagzeilen gemacht haben, aber heute im kollektiven Unterbewussten vor sich hindämmern, wie die Corona-Pandemie selbst.

Zum Beispiel kommt der Germanwings-Absturz 2015 in Frankreich mit 150 Todesopfern vor, dessen Ursache zunächst rätselhaft war, bis man herausfand, dass ein depressiver Co-Pilot damit seinen Selbstmord hatte inszenieren wollen. Oder auch Gregor Schneiders leicht unheimliches Kunstprojekt Totes Haus ur, für das der Künstler 150 Tonnen Material aus seiner Geburtsstadt Rheydt zur Biennale von Venedig 2001 transferieren ließ, um sein Elternhaus zu rekonstruieren.

Kunst oder Wirklichkeit, das ist hier die Frage. Wo verlaufen eigentlich die Grenzen zwischen tatsächlichen Ereignissen und unserer Imagination? Immer wieder geht bei Cejpek Geschichte fließend in Reflexionen zur Kunst über, vor allem zum Film, den Jacques Derrida „die Kunst der Geister“ nannte, weil er die Anwesenheit von Menschen vortäuscht, die eigentlich abwesend oder bereits tot sind. Cejpek erinnert etwa an Methusalem, einen expressionistischen Film von 1927 auf der Grundlage eines Stücks von Yvan Goll. (An Goll erinnert man sich heute vor allem, weil seine Witwe Claire behauptete, Paul Celan habe von ihm abgeschrieben. Mit ihren Memoiren Ich verzeihe keinem löste Claire Goll 1976 erneut einen Skandal aus. Sie schilderte darin, dass ein viel jüngerer Liebhaber ihr als über 70-Jährigen den ersten Orgasmus verschaffte.) Cejpek hat auch herausgefunden, dass die einst erfolgreiche Mystery-Serie The X-Files (1993–2018) um die Agenten Scully und Mulder auf den US-Psychoanalytiker Jule Eisenbud zurückgeht, der fest an Gedankenübertragung glaubte. Das sage zumindest Wikipedia.

Von dort ist der Weg nicht weit zu den Ärzten und Wissenschaftlern des 19. Jahrhunderts, von denen nicht wenige offenbar etwas ratlos an der Wegscheide zwischen Forschung und Okkultismus standen. Die Vermutung liegt nahe, dass zu dieser Zeit das ‚Übernatürliche‘ endgültig aus dem Diskurs ausgeschlossen wurde. Als Beispiel dient Cejpek der schwäbische Arztdichter Justinus Kerner, der sich wie der eine Generation jüngere Edgar Allan Poe für den Mesmerismus begeisterte. Neben Sigmund Freud, dem abergläubischen Vater der Psychoanalyse, interessierte sich auch C. G. Jung, der während seines Studiums regelmäßig Séancen besuchte, für ‚übernatürliche‘ Phänomene. Freud selbst verzichtete wohl nur deshalb auf die Publikation eines Artikels über Telepathie, weil er um seine wissenschaftliche Reputation fürchtete.

Cejpek nimmt auch die Diskussion um den Ursprung der abstrakten Kunst auf. Anstelle des ebenfalls am Spiritismus interessierten Kandinsky wird seit ein paar Jahren nämlich vermehrt die Schwedin Hilma af Klint als erste abstrakte Malerin ins Feld geführt, wie Cejpek referiert. Sie habe 1906 „im Auftrag ihrer Geister“ das erste abstrakte Bild gemalt. Af Klint galt als eifrige Leserin des deutschen Okkultisten Carl du Prel, der in Münchens besten Kreisen spiritistische Sitzungen veranstaltete. Man möchte aus Kenntnis anderer Quellen hinzufügen: Sogar die Presse war damals dabei, als man versuchte, das „Ektoplasma“ fotografisch festzuhalten, den geheimnisvollen Stoff, der bei Medien angeblich aus allen (!) Körperöffnungen austritt. Thomas Mann soll bei einer solchen Sitzung einmal schlecht geworden sein.

Die Art und Weise, wie Cejpek seine Folgen lose miteinander verbundener Textsequenzen komponiert, könnte man getrost eine Suite nennen, eine Gespenstersuite. Die innere Dynamik des Buches, seine „Raumfolge“, entsteht nämlich dadurch, dass der Leser den Notaten Cejpeks immer weiter folgt, ihnen wie durch unendliche Zimmerfluchten hinterherjagt, ohne je zur Ruhe und zu einer abschließenden Conclusio zu kommen. Fast als wäre er selbst das Gespenst.

 

Judith Leister lebt in München. Nach dem Studium der Literaturwissenschaften in München und Berlin ist sie heute als freie Journalistin vor allem für die Neue Zürcher Zeitung und den Deutschlandfunk tätig.

Lucas Cejpek Du siehst Gespenster und nichts in der Minibar
Wien: Sonderzahl, 2024.
240 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-85449-660-1.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor sowie einer Leseprobe

Rezension vom 22.11.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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