Die Form zu wahren ist nicht Jedermenschs Sache. Auch ist in einem literarischen Sinn das Formale durch die kreativen Prozesse der Moderne und Nachmoderne zeitweise ein wenig in Verruf geraten, haben sich doch lyrische, erzählerische und dramatische Anteile immer wieder neu melangiert und dabei zu gelungenen wie auch weniger überzeugenden künstlerischen Ergebnissen geführt. Doch der Ruf nach Form, Formstrenge gar, ist auch im aktuellen Diskurs durchaus nicht verstummt.
Der Wiener Autor Lukas Meschik, Jahrgang 1988, geht seinen eigenen Aufruf, die Form zu wahren, spielerisch bis ironisch an. Er ist bisher vor allem mit Romanen und Erzählungen hervorgetreten und hat 2019 mit einem Auszug aus seinem Vaterbuch sogar eine Einladung zum renommierten Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt bekommen. Daneben ist er recht erfolgreich als Texter, Sänger und Gitarrist der Band Moll. Sein soeben bei Limbus in der Reihe Lyrik erschienenes Buch Form wahren. Dreizeiler kann man nicht ohne weiteres als Gedichtband bezeichnen, auch wenn der Untertitel auf einen regen Gebrauch des Haiku schließen lässt.
Freilich finden sich – sehr vereinzelt – tatsächlich formstrenge Japaner im 5-7-5-Silben-Erscheinungsbild „klassischer“ europäisierter Haiku- bzw. Senryu-Tradition. Doch Lukas Meschik erweitert diesen Anspruch in vielerlei Hinsicht, formal wie inhaltlich. Die Texte haben eine große Spannweite zu bieten, reichen vom skizzenhaften Notat bis zum geschliffenen Epigramm, von der verspielt-privaten Petitesse bis zum kalkulierten Politstatement.
Zunächst haben alle seine Dreizeiler Überschriften, die nicht selten untrennbarer Bestandteil des Gesamttextes sind oder doch zumindest scheinen: „Das Ende der Geschichte // Sei da, sagt Francis Fukuyama / Dann verkünde ich hiermit feierlich / Das Ende der Gedichte“, heißt es etwa im – wie könnte es anders sein – letzten Text auf der letzten Seite (o.P.). Ob man über den Zeilensprung hinwegliest oder das „Sei da“ als für sich stehenden Imperativ wahrnimmt, ändert natürlich fundamental den möglichen Sinn. Und Meschik ist sich der ausgeweiteten Grenzen stets bewusst, schreibt gar vom „Kuckucksvers // Alle paar Überschriften / Entpuppt sich ein Dreizeiler / Als insgeheimer Vierzeiler“ (S. 16).
Seine Darreichungen erinnern nicht selten auch an den französischen Journalisten und Literaten Félix Fénéon (1861–1944), der in der Zeitung Le Matin Ende der 1890er Jahre seine sogenannten Faits Divers als beim Publikum durch seine Kürze geschätzten Nouvelles en trois lignes in einer wiederkehrenden festen Rubrik etablierte. Der Medienforscher Fabian Goppelsröder schrieb hierzu treffend: „Sein ästhetisches Gespür wie literarisches Geschick machten aus informativen Dreizeilern poetische Miniaturgeschichten.“1 Es handelt sich also um poetisierte Nachrichten, und diese Grundidee greift auch Lukas Meschik auf, mit dem Unterschied, dass seine Texte selten Meldungen für eine Öffentlichkeit zum Inhalt haben, sondern eher ganz persönlich Erlebtes.
Formal finden sich immer sechs Dreizeiler samt Titel auf einer Seite. Das stets einheitliche Erscheinungbild wirkt für das Auge des oder der Betrachtenden auf die Dauer etwas ermüdend, auch wenn die Zeilenlängen stark variieren.
Im Gegensatz hierzu erzeugen solcherlei Dreizeiler Schlag auf Schlag ein semantisches Wechselbad, welches nicht immer angenehm ist. Gerade noch sinnt man einem nachdenklichen „Magic Moment“ nach: „Lehn dich in die Schwebehand / Des abwartenden Augenblicks / Du bist mein Verzicht auf Einsamkeit“ (S. 21) , schon verdirbt man sich übergangslos den Geschmack mit Gedankenlosigkeiten vom Schlage „Ach hätte ich doch nur / Auch einen Holocaust / zufällig überlebt“ (ebd.). Da rettet dann auch die Überschrift „Ungehörige Klage“ nichts mehr. Keine Diskussion: Kunst darf das, Satire eh – aber ob sie es auch sollte, steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Vielleicht lag’s ja auch an der von Lukas Meschik im Vorwort behaupteten strengen Chronologie, die im Nachhinein bei der Anordnung der Dreizeiler keine Veränderungen mehr zuließ, denn gleich darauf folgt „Passivrauch // Am Gehsteig im Qualm / Dümmlich grinsend hinterdrein / Mitnaschen am Joint des Vordermanns“ (ebd.). Da mag vielleicht schon ein erstes Wölkchen Haschisch an der vorhergehenden Klage mit Schuld gewesen sein.
Am überzeugendsten sind Meschiks diverse Triverse immer dann, wenn sie süffisant die Absonderlichkeiten des Alltags porträtieren und kommentieren und gleichzeitig der Titel mehr ist als eine situative Einstimmung auf den folgenden Text, so etwa in seinem „Perpetuum Mobile // Zwangsbeschallung mit Regionalradio / Im Wartezimmer der Ohrenarztpraxis / So züchtet man frische Patienten“ (S. 49).
Tatsächlich gehören einige der Texte, die aufeinander folgen, auch wirklich zusammen. Das ist besonders wirkungsvoll, wenn auch die jeweiligen Überschriften miteinander kommunizieren wie in den drei Skizzen, die mit „Frankfurt“, „Frankfurter“ und „Am Frankfurtesten“ (S.84-85) überschrieben sind und erst beim dritten der Titel klar wird, dass sie für eine absurde Steigerungsform stehen und nicht für die Stadt und ihre Bewohner.
Doch die überwiegende Zahl der kleinen Sprachgebilde von Lukas Meschik steht für sich allein, sei es für einen flüchtigen Augenblick der äußeren Wahrnehmung oder als Ergebnis langen Feilens an tiefsinnigen und gleichzeitig oft sehr erheiternden Gedankengängen.
Die kurze Form bildet an sich ja schon ein Eindampfen, einen Vorgang des Komprimierens ab. Lukas Meschik schreibt im Vorwort vom Auswahlverfahren, rund die Hälfte der etwa eintausend entstandenen Dreizeiler hätten dann auch tatsächlich als „doppeltes Destillat“ ihren Weg ins Buch gefunden, teilweise auch nach nochmaliger gründlicher Überarbeitung. Noch eindrucksvoller wäre dieser Destillationsprozess allerdings ausgefallen, hätten der Autor oder das Lektorat auf einer weiteren Runde des Einköchelns bestanden.
Auch die beständig wechselnde Aneinanderreihung von schwer und leicht – wie bereits erwähnt der chronologischen Entstehungsweise geschuldet – lässt keine stringente Rezeptions-Verfassung bei Meschiks Lesegemeinde aufkommen. Man fühlt sich hin und her geworfen zwischen Scharf- und Tiefsinn, Spielfreude, Albernheiten und Belanglosigkeiten. Die Strategie dagegen wäre vielleicht, die Texte einfach nicht am Stück zu lesen. Irgendwo aufschlagen, einen Dreizeiler herausgreifen und das Buch beim Wirkenlassen dann schon wieder zuklappen. Den Vorgang mehrmals am Tag, der ja fast immer Gelegenheiten zur Minuten- oder Sekundenlektüre bietet, wiederholen.
1 Goppelsröder, Fabian: Kalendergeschichte, Fait Divers, Twitter. Zur Medienästhetik kleiner Formen. Wallstein Verlag, Göttingen 2023
Marcus Neuert, geboren 1963 in Frankfurt am Main, Studium der Kulturwissenschaften an der FU Hagen, lebt und arbeitet nach langjährigen Stationen in Hessen und Baden-Württemberg als Autor, Musiker, Literaturkritiker und Kulturarbeiter in Minden/Westfalen und Coswig bei Dresden. Für seine Texte, die in zahlreichen Anthologien und Literaturzeitschriften sowie in mehreren Einzelpublikationen veröffentlicht wurden (zuletzt: Imaginauten. Ein Morbidarium in 21 Erzählungen. Free Pen Verlag, Bonn 2018 sowie fischmaeuler. schaumrelief. anagrammatische miniaturen. edition offenes feld, Dortmund 2021), erhielt er u. a. Auszeichnungen bei PostPoetry NRW (2014 und 2022), beim Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis (2017) und beim Lyrikpreis Meran (2021). Weitere Infos unter marcusneuert.jimdofree.com.