#Roman
#Debüt

Nacktschnecken

Annemarie Andre

// Rezension von Barbara Rieger

Der Debütroman von Annemarie Andre schildert das Zusammen-, Auseinander- und Überleben einer Familie in Niederösterreich aus der Sicht des jüngsten Kindes Charlotte. Hautnah erleben wir mit Charlotte ihren ekelhaften großen Halbbruder, ihre liebevolle aber abwesende Halbschwester, die von einer Gehirnblutung schwer beeinträchtigte Mutter, deren alkoholkranken Freund, den nicht vorhandenen Vater, die Nacktschnecken im Garten und den Versuch trotz allem einen Platz in der Gesellschaft zu finden.

Die titelgebenden Schnecken sind schon am Cover zu sehen, sie kriechen über die Haare und die Schultern eines jungen Mädchens, sie ziehen sich durchs Buch, tauchen immer wieder in Szenen auf. Nacktschnecken ist in drei Teile gegliedert, die allerdings nur durch Silhouetten von eins, zwei, beziehungsweise drei Nacktschnecken markiert sind und fast übersehen werden könnten. 

Teil eins gibt uns in vier Kapiteln mittels kürzerer zum Teil collagierter Szenen einen Einblick in eine Familie, die es nicht leicht hat.

Da ist der älteste Sohn und Halbbruder der Ich-Erzählerin, Marcel, der die Familie als „Billigsdorfer-Leitners“ bezeichnet, Lebensmittel aus Mülltonnen fischt, zum Frühstück Wurstsalat mit Zwiebeln isst und Schnecken im selbst gebauten Schneckenhäcksler tötet.

Da ist die ältere Halbschwester Anja, deren Haut aufgrund eines Strom-Unfalls für die Ich-Erzählerin aussieht wie „eine Mondscheibe mit kleinen Rillen und Kerben“ (S. 20), und die ihrer kleinen Schwester anbietet, ihren Schutzengel mit ihr zu teilen.

Charlotte selbst geht zu Beginn des Romans in die Volksschule. Sie ist eine gute Schülerin, aber ein schüchternes Kind, das seine Geschwister bewundert und an seiner Mutter hängt. Neben dieser sitzt sie stundenlang und malt, anstatt mit den Nachbarskindern im Hof zu spielen, da die Mutter nichts von Freundschaften mit den Nachbarn hält. Die Mutter arbeitet in einer Wäscherei und ist alleinerziehend. Tatkräftig erschlägt sie die Mäuse am Dachboden und kümmert sich um ihre drei Kinder. Bis sie im Alter von vierzig Jahren eine Gehirnblutung erleidet, die in einer stundenlangen Operation gerade noch gestillt werden kann.

Der zweite und längste Teil erstreckt sich von der Zeit der Rekonvaleszenz der Mutter bis zum ersten – und einzigen Treffen – von Charlotte mit ihrem Vater. Erzählt wird weiterhin in der 1. Person, im Präteritum mit tendenziell kurzen Sätzen und knappen Dialogen. Immer wieder gibt es kurze Rückblenden, die gut zur Wahrnehmung des Kindes passen, das einiges erst im Nachhinein von den größeren Geschwistern erfährt oder versteht. In 21 Kapiteln verfolgen wir das Aufwachsen unter schwierigen Bedingungen und die Entwicklung der Ich-Erzählerin und ihrer Beziehungen zu den Familienmitgliedern.

Die Mutter ist nach der Gehirnblutung zunächst schwer beeinträchtigt: „Mama war jetzt immer müde. Während sie früher die ganze Zeit herumlief, hin und her, auf und ab, bewegte sie sich jetzt nur mehr zwischen Bett, Klo und Couch.“ (S. 48)

Zunächst kümmert Anja sich um die Mutter und Charlotte, doch bald zieht sie aus, um in einer anderen Stadt eine Lehre und ihr eigenes Leben zu beginnen.

Marcel hingegen begleitet Charlotte nur widerwillig – in Schlapfen und Socken – zur Schule und schimpft sie aus, wenn sie vor Angst ins Bett macht, er wirft ihre Lieblingspuppe in den Müll und lässt Nacktschnecken über sein Gesicht kriechen. Auch er zieht schließlich aus, als die Mutter in einem AMS-Kurs – in den sie geschickt wird, „weil sie vergessen hatte, ihren Krankenstand zu verlängern“ (S. 72) – Manfred kennenlernt und dieser bei ihnen einzieht.

„Die Nacktschnecken bevölkerten die Tulpen, und Manfred legte sich auf die Couch und faltetet seine Hände über dem Bauch. Ich setzte mich neben ihn in eine freie Ecke und zeichnete. Ich malte Prinzessinnen ohne Arme, dafür mich Tellern als Hände und Würsten als Finger. […] Ich malte den Prinzessinnen Narben auf ihre Beine, wie Anja sie hatte, aber niemand konnte sie sehen. Sie waren unter den wallenden Kleidern verborgen“ (S. 85f.). 

Manfred ist ein Alkoholiker, der über einen gewissen Charme verfügt und immerhin nicht gewalttätig wird. Charlotte vergleicht ihn mit einer Nacktschnecke. „Manfred fraß sich weiter durch unser Leben. Nagte Blatt für Blatt an und ließ es klebrig zurück.“ (S. 91). Sie wünscht sich ihn fort und ihre Geschwister zurück. Außerdem träumt sie von ihrem leiblichen Vater oder von irgendeinem anderen Mann, der sie und die Mutter rettet oder zumindest davon, einmal zum Schwimmen ins Pool ihres Schulkameraden eingeladen zu werden. In der Realität gerät das Treffen mit dem leiblichen Vater, zu dessen Alm die Mutter und sie schließlich hinaufsteigen, freilich zu einer herben Enttäuschung. 

Im kürzeren dritten Teil bleiben Charlotte und ihre Mutter schließlich alleine zurück. Manfred, der im Laufe der Beziehung zahlreiche Ausscheidungen wie Blut, Kotze und Kot in ihrer Wohnung hinterlassen hat, kommt nicht wieder, als er auf einer seiner Entziehungskuren eine andere Frau kennenlernt. 

Ihren Bruder Marcel, der sie nach wie vor nur ärgert und aufzieht, besucht Charlotte nur mehr, wenn Anja einmal im Jahr zu Besucht kommt. Schließlich beschließt sie unter Tränen: „Da fahre ich nie wieder hin.“ (S. 197)

Die Mutter nimmt das Hirschgeweih von der Wand, das eine Erinnerung an Charlottes Vater darstellt. Charlotte ist zwar – laut ausgehängter Meinung der Buben – das unbeliebteste Mädchen in ihrer Klasse im Gymnasium, hat aber immerhin einige Freundinnen. Die Mutter bemüht sich, ihr mit ihren kargen Ressourcen eine Teilnahme an der Gesellschaft zu ermöglichen. Laut ärztlicher Meinung ist es unwahrscheinlich, dass nach so vielen Jahren eine weitere Blutung auftritt. Die Angst bleibt. Sowohl bei der Mutter, als auch bei Charlotte. 

Kinder lieben ihre primären Bezugspersonen, auch wenn sie sich ekelhaft verhalten wie Marcel oder entstellt sind wie Anja. Besonders lieben sie die eigene Mutter, selbst wenn diese schwach ist. Das zeigt dieser Roman auf berührende Weise. Das Kind Charlotte gesteht sich ein, dass sie sich manchmal eine andere Mutter wünscht. Die jugendliche Charlotte schämt sich für ihre Mutter, wenn diese ihren Behindertenausweis vorzeigen will. Doch sie neigt nicht zu Wut oder gar zu Hass, die ihre Erfahrungen schließlich auch hervorbringen könnten. Umgekehrt wird die Liebe der Mutter zu Charlotte erst am Ende des Romans greifbar. 

Durch die Perspektive des Kindes gelingt es der Autorin, einen offenen, wertfreien Zugang zu Figuren zu schaffen, die mit wenig finanziellen und sozialen Ressourcen ausgestattet sind. Die Autorin erklärt uns nicht, wie schwer sie es haben, sondern erzählt es uns detailreich und eindringlich. Gerne würde die Rezensentin lesen, wie die erwachsene Charlotte mit dieser Kindheit umgeht. 

 

Barbara Rieger (* 1982) ist Autorin, Schreibpädagogin und Herausgeberin.
https://www.barbara-rieger.at/

Annemarie Andre Nacktschnecken
Roman.
Salzburg – Wien: Müry Salzmann Verlag, 2024.
224 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag.
ISBN 978-3-99014-261-5.

Verlagsseite mit Informationen zu Autorin und Buch

 

Rezension vom 29.12.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.