Der Titel Tagebruch / Instant verweist auf zwei Eindrücke (oder genau genommen Assoziationen): Zum ersten ist Tagebruch ein Bergschaden, der bis an die Erdoberfläche (Bergmannsprache: „Tag“) dringt und also sichtbar wird. Man denkt an Fotografien von Wiesen mit kraterartigen Löchern und riesigen Mulden, die ohne offensichtlichen Grund in der Landschaft auftreten. In Bergbauregionen kommen diese sonderbaren Erscheinungen öfter vor, etwa durch Stollen, die alt oder nicht aufgefüllt sind. Der Begriff Instant lässt sich übersetzen mit Augenblick oder Moment.
Beginnt man die Lektüre, so ist man sofort am 1.7., am Beginn eines Sommers und in einem „Sommerfreitagruheabend“. In knappen, meist vier- bis sechszeiligen Versen pro Seite lassen einen die Wortfetzen und Wortbauten in Sommertage entfliehen, wie man sie gerade erlebt haben könnte. Dabei verzichtet die Autorin gänzlich auf Satzzeichen (bis auf Fragezeichen) und auch Umbrüche. Lediglich „/“ trennen einzelne Worte oder Gebilde voneinander ab.
„1.7. Sommerfreitagsruheabend / fast / meine Fußspitzen umbranden / U-Bahnwellen zweiminütlich / die Rücklichtkolonne jenseits der Flußandeutung / frisst sich / behäbig / in die werdende Nacht“ (S. 5)
Der Titel Tagebruch / Instant ist fast deskriptiv für die Texte, die folgen, und beschreibt das, was auf den:die Lesende:n wartet: Es ist, als würde eine Menge fehlen, als würde man nur den Einblick in zehn Prozent erhaschen, von dem Erlebten, das hier erzählt wird. Gleichzeitig haben alle Worte und Seiten so einen festen Griff, dass man dieser Reise zwischen einem Versuch, etwas zu greifen, zwischen Alltag und Alltäglichkeit, mehr als gerne folgt. Allein in der Datierung von Tag und Monat, jedoch ohne Jahr, umfasst die Publikation den Zeitraum eines Jahres von einem Sommer Anfang Juli bis zum nächsten Sommer Mitte Juni – oder jedenfalls nimmt man das an durch die lose und chronologische Abfolge der Datierungen. Chronologisch zwar, jedoch nimmt die Frequenz der Notate im Laufe der Zeit (beziehungsweise im Laufe des Bandes) ab: Die Lücken zwischen den Tagen werden größer. Wo befinden wir uns? In welchem Jahr und wo laufen, wabern, spazieren wir mit den Texten durch die Welt?
„3.10. herumirrend auf / sich leerenden / Möbelhausparkplätzen / vorbei an Vorstadtalmen / die / keine sind / nur / an den Stadtrand verpflanzte / Fata Morganen”, heißt es am 3.10. auf Seite 38. Im Lesen und Rückblättern, Treibenlassen und Weiterlesen dieses schmalen und doch so ausgiebigen Bandes bleibe ich an diesen Zeilen hängen. Zuerst fällt da die Fata Morgana auf, die hier, im Plural verwendet, etwas von dem Gefühl einfasst, das einen bei der Lektüre einfängt und begleitet. Die kurzen Momentaufnahmen aus unterschiedlichen Tagen stellen sich kommentarlos wie ein Tagebucheintrag dar, welcher sich jedoch niemals zu rechtfertigen oder gar erklären sucht. Vielmehr konzentriert sich die Autorin auf feine Beobachtungen und filtriert Miniaturen und Geflechte aus unauffällig anmutenden Alltagsszenarien, um sie vor den Lesenden aufzuspannen. Meine Erinnerung, als Lesende, lässt vor meinem inneren Auge Bilder aufleuchten von Sommerabenden, von fast verlassenen Sommerbädern und Spaziergängen durch eine Stadt im herbstlichen Dämmerlicht, wenn die ersten Lichter aufscheinen und die Welt langsam in Dunkelheit versinkt, im Winter – bis der nächste Frühling kommt.
„25.11. gefühlt der dritte Tag / vergraben im Nebel / gefühlt der dritte Abend / ohne mich / gefühlt der dritte Monat / ohne Sonne / gefühlt das dritte Leben / ohne Licht” (S. 54)
Mit diesen Bildern, die mir beim Lesen flackernd erscheinen, mich Seite für Seite in einen anderen Tag geleiten, gehe ich sofort mit der Autorin mit und werde doch von ihr im nächsten Moment auf eine neue Fährte gelockt:
„10.10. nehmen wir es hin / das / frühe Frieren entlang der / Stadtmeridiane / das / sich Verdunkeln unseres / Himmels / das grau sich Färben / unserer Erinnerungen / und das blühende / treibende / Sehnen nach / Wärme?“ (S. 40)
Im Fragen nach Wärme hebelt die Autorin die Assoziation mit den Jahreszeiten, der Temperaturen und des Wetters aus – und plötzlich erscheint der Text vielmehr in metaphorischen Klammern und Gedankenströmen nach einer Gesellschaft zu suchen und im flanierenden Beobachten sowohl das Ich, als auch das Wir auszuloten: Die Jahreszeit wird zu einer Klammer – Ausgangspunkt und Metapher zugleich. Dabei bleibt zugleich immer wieder schwer zu sagen, worum es von Seite zu Seite wirklich geht, abgesehen von der Aneinanderreihung von Daten kann man den Band in eigenem Tempo und beliebiger Reihenfolge durchblättern und – quasi – in ein Leben, eine Welt und einen Blick eintauchen.
„9.12. ich lasse mich sammeln / auf Kurven / Brücken / Landstraßen / lasse mich ansiedeln / auf Berg und / Fingerkuppen / ruhe mich aus / auf / Mutternarben / Mädchenbrüsten / dabei bin ich nur der / negative Raum“ (S. 57)
Das erzählende Ich taucht auf und verschwindet dabei, wie die Fetzen und Verwebungen, die einem kurz Halt geben – dann wieder sind die Spuren verschwunden und die Beobachtung beginnt von neuem, an einem neuen Tag.
Eine Textsammlung, ein Lyrikband, welcher zum Nachdenken, sich in der Welt verorten und Assoziieren anregt, und in dem das Fehlen der roten Sicherheitsleine nicht ein Mangel, sondern eine Qualität darstellt.
Maren Sophia Streich, geboren 1993 in Berlin, lebt in Wien. Studium der Komparatistik an der HU Berlin, Gesellschaftskommunikation an der UdK Berlin, Schauspiel am Max Reinhardt Seminar und Absolvierung einiger Schreibklassen. Ihr Schreiben entwickelt sie über die Praxis im Schauspiel und begreift die Tätigkeit der verschiedenen Bereiche als Mosaik, in dem man erst denken kann. Sie schreibt Drama, Prosa und manchmal Essay. Erschienen sind ihre Texte u. a. im Process*in Magazine, Komplex Kulturmagazin und mosaik freitext. Uraufführungen im LOT/Brotfabrik Wien, Alsergrunder Kultursommer, Wiener Kultursommer und Theaterforum Schwechat, sie erhielt Stipendien der Stadt Wien und vom BMKÖS, hat das LOT in der Brotfabrik mitgegründet und aufgebaut und war bis Ende 01/2023 Teil des Leitungsteams. Außerdem schreibt sie Artikel, u. a. für die gift und bohema und arbeitet im kulturpolitischen Bereich.