Sich irgendwann zur Ruhe zu setzen scheint nicht im künstlerischen Auftragsbüchlein von Gerhard Rühm zu stehen: am 12. Februar 2025 wurde er 95 Jahre alt. Das wäre an und für sich ein plausibler Zeitpunkt, um zurückzuschauen und Betrachtungen über das Lebenswerk des Ausnahmedichters anzustellen. Aber dies ist vielfach bereits zu früheren (halb-)runden Jubiläen Rühms geschehen. Wohl auch ihm selbst erschien es da offenbar spannender, neue Texte zu veröffentlichen, das Künstlerische für sich sprechen zu lassen.
Seine neueste Schöpfung ist ein Band, den der österreichische Ritter Verlag pünktlich zum Geburtstag des Dichters realisiert hat: in kurzen poetischen Erzähltexten umkreist der Autor spielerisch Skurrilitäten, die ihren Ursprung in kleinsten Beobachtungen oder in Zusammenhängen geradezu kosmischen Ausmaßes haben können wie in vollmond:
anton und antonia – vor urzeiten noch in einer person vereint – sind hellwach. sie haben beide gerade noch rechtzeitig überlebt. vom hell leuchtenden vollmond in ein unwirkliches licht getaucht, atmen sie einander ein und aus, ein und aus, ein und wieder aus, jahr für jahr. Die ganze galaxie atmet ja mit: ein und aus, ein und aus […] (S. 21)
Die Miniaturen werden in Beziehung gesetzt zu schnappschussartigen Aufnahmen der Wiener Regisseurin und Drehbuchautorin Martina Kudláček, die der Filmkritiker Michael Omasta einmal eine „Archäologin der internationalen Filmavantgarde“ genannt hat. So haben auch ihre Fotos eher den Charakter von Fundstücken, und die erwähnte Beziehung vollzieht sich nicht etwa durch direkte Zuordnungen zwischen Text und Bild, sondern im Gegenteil durch die Präsentation in jeweils größeren Blöcken, die aufs erste Ansehen sogar eher wenig miteinander zu tun zu haben scheinen: die augenscheinlich vollkommen unbearbeiteten Aufnahmen von Kaffeetassen, Kuchenstücken und kreativ-chaotischen Arbeitsplätzen aus eigenwilligen Perspektiven wollen erst einmal so gar nicht passen zu den verspielten Prosastückchen Rühms, die vordergründige Banalität der Motive konfligiert ästhetisch eher mit den surrealen Texten.
Erst im Laufe der fortschreitenden Betrachtung fallen dann doch die Parallelen dieser „Stillleben“ genannten Bildreihen mit den Prosaminiaturen ins Auge. Auch in ihnen geht es um Kleinstes (Krümel auf einem Kuchenteller, S. 39) und Größtes (ein endloser Himmel aus einem Flugzeugfenster fotografiert, S. 45), auch hier wechseln eher monochrome und vielfarbige Aufnahmen einander ab, wie ein paar der Texte stark auf ein Einzelmotiv fokussieren, andere wiederum semantisch weit ausschwingen, und schließlich wirken einige wenige Bilder trotz ihrer gewollt ungekünstelten Atmosphäre auch eher arrangiert, analog zu jenen Texten Rühms, in denen die Minimalhandlung ungeahnte originelle Volten schlägt:
das nachtgespenst, zumindest sein umriss, entstand durch eine schere zu einem zeitpunkt, als nach federleichter hausmusik unerwartet die sonate opus 111 ertönte. der, von dem sie stammt, braucht hier nicht eigens genannt zu werden. nachdem der ablauf einer sanduhr abgewartet worden war, umfasste die interpretin unter tränen eine handvoll klaviertasten und verschwand im nebenzimmer, aus dem bis zum morgen des darauffolgenden tages unvertraute laute zu vernehmen waren. (S. 113)
Überhaupt spielt die Musik in vielen Texten eine herausragende Rolle. Ob als vereinzeltes Motiv wie ein „ausgeticktes metronom“ (geheimnis, S. 111) oder der lapidaren Schlussformel „da capo al fine“ (mitte mai, S.105), ob als titelgebendes Thema (cäcilia und die orgel, S. 61) oder „ein munter pulsierendes konzert“ eines Wasserkochers (schmelzende gletscher, S. 63), stets streift Gerhard Rühm auch seine lebenslange Leidenschaft für die Tonkunst – stand sie doch einst am Beginn seiner künstlerischen Laufbahn, als er Klavier und Komposition an der Wiener Universität für Musik und darstellende Kunst und später privat beim Zwölftöner Josef Matthias Hauer studierte.
Im Ganzen wirken die oft aberwitzigen Plots und deren Twists wie aus allen Himmelsrichtungen, Zeiten und Stimmungen zusammengeholt, ohne dabei ihren typischen Rühm-Ton zu verlieren, den man mit dem Oxymoron „unschuldig-ironisch“ beschreiben könnte. Aus Formen wie Märchen, Groteske, Fantastischem und Politsatire entlehnt der Autor unbekümmert wesentliche Zutaten, um sie nicht nur zu einem eigenwilligen Cocktail, sondern zu neuer, innerer Form zusammenzuführen. Dabei keilt er zwar mitunter auch spielerisch gegen den Zeitgeist aus wie in narrentänze („[…] inzwischen war es nacht geworden und die narren hatten die hosen aufgetan und ihren nabel im festen glauben zur schau gestellt, es handle sich bei ihnen um den nabel der welt […]“, S. 23).
Die Mehrzahl der Prosaminiaturen atmet allerdings eher eine Form von Überzeitlichkeit, eine gewollte Konfrontation von prosaischem Alltag und poetischer Anverwandlung, wie sie bei näherer Betrachtung auch den Fotografien Martina Kudláčeks innewohnt – auf einem davon ist etwa der Hinweis „Ausfahrt Tag und Nacht freihalten“ zu sehen, unter welchen jemand ein handgefertigtes Schild mit der Aufschrift „Sehnsuchtstorte – also eine die es gar nicht gibt, oder?“ (S. 37) geschraubt hat.
Im Abspann erfährt die Lesegemeinde noch, dass das ganze Projekt ursprünglich aus einem Akt spielerischer Experimentierfreude geboren wurde: Kudláček gab Rühm anfangs zwölf Wörter vor, aus denen er die erste der Miniaturen schuf; das Prinzip vervielfachte sich, und am Ende standen sechsunddreißig ausgewählte Texte (zu denen sich wohl im Eifer des künstlerischen Austauschs noch ein siebenunddreißigster dazugesellte, die im Titel erwähnte Zugabe) den zwölf „unabhängig beigegebene[n]“ (S. 118) fotografischen Stilleben Kudláčeks gegenüber. So hat denn die Künstlerin letztlich auch an den Texten ihren maßgeblichen Anteil. Ein alle kreativen Sinne ansprechendes Vergnügen ist bei der Rezeption des entstandenen Werks jedenfalls garantiert.
Marcus Neuert, geboren 1963 in Frankfurt am Main, Studium der Kulturwissenschaften an der FU Hagen, lebt und arbeitet nach langjährigen Stationen in Hessen und Baden-Württemberg als Autor, Musiker, Literaturkritiker und Kulturarbeiter in Minden/Westfalen und Coswig bei Dresden. Für seine Texte, die in zahlreichen Anthologien und Literaturzeitschriften sowie in mehreren Einzelpublikationen veröffentlicht wurden (zuletzt: Imaginauten. Ein Morbidarium in 21 Erzählungen. Free Pen Verlag, Bonn 2018 sowie fischmaeuler. schaumrelief. anagrammatische miniaturen. edition offenes feld, Dortmund 2021), erhielt er u. a. Auszeichnungen bei PostPoetry NRW (2014 und 2022), beim Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis (2017) und beim Lyrikpreis Meran (2021). Weitere Infos unter marcusneuert.jimdofree.com.