Das Unbehagen erzählt, in vergleichsweise konventioneller Form, die Geschichte des ambitionierten Deutsch- und Geschichtelehrers Lorenz Urbach, der ins Strudeln gerät, als ihm eine Schülerin vorhält, die von ihm beschworene revolutionäre Kraft der Literatur sei bloße Verblendung. „Aber Herr Professor, unterbrach sie, laut und vor der Klasse stehend, ist doch alles nur Scheiß. […] Wir sitzen hier und reden und reden und es ist trotzdem Scheiß.“ (S. 11) In Lorenz Urbach rührt sich ein tiefsitzendes Unbehagen, bedingt durch das Gefühl, selbst dem Konformismus verfallen zu sein, wo es eigentlich aufzubegehren gälte. „Er hasste sich für den Gedanken, aber etwas begann in ihm zu verkrusten, als spüre er eine ungewohnte Animosität. Fast zornig blickte er nun auf die Gesichter im Klassenzimmer, diese Jugend, die ihm vorwarf, so unterstellte er ihnen allen plötzlich, nichts getan zu haben.“ (S. 25)
Die tagtäglich ohne echte Reaktionsmöglichkeit rezipierten Nachrichten von korrupten Politikern, familiären Amokläufen, verheerenden Blutbädern, im Mittelmehr ertrinkenden Menschen, treibhausgasbedingten Dürren und Flutkatastrophen, verbunden mit dem Bewusstsein, dass sich kaum noch jemand daran stört (ja selbst die 14-jährige Tochter souverän mit allem klarzukommen scheint) – dieses vage Gefühl ob der Verlogenheit des eigenen, – trotz der bei Hannah Arendt, Karl Marx und George Tabori genommenen Anleihen – letztlich völlig gleichgeschalteten Lebens entfacht in Lorenz einen lange schon schwelenden Hass auf jene, an denen sich dieses Glattgehen besonders deutlich zeigt. Als ihm im Zuge eines auf dem Schulparkplatz eskalierenden Streits der Sportlehrer (und Burschenschaftler-Sympathisant) Strenzl bei heruntergelassenem SUV-Fenster zuruft, Lorenz solle sich sein Denken in den Arsch stecken, bekommt der Kollege kurzerhand die Faust ins Gesicht. „Lorenz holte aus, so wird er noch nie gesehen worden sein, schoss es ihm durch den Kopf, und Blut im Kollegenauge triefte.“ (S. 27)
Die Versöhnungsanbahnungen seitens der Schuldirektorin, die die disziplinären Konsequenzen mildern will, torpediert Lorenz ebenso wie er die juristischen Ratschläge von Ex-Frau Klara übergeht. Das alles hat keine Wichtigkeit mehr führ ihn. Stattdessen betrinkt er sich, stolpert melancholisch erotisiert durch heiße Nächte und stöbert in lang vergessenen, im Keller vergilbten Kisten. In einer davon der alte Camcorder, der früher, als er noch künstlerische Ambitionen hegte, sein steter Begleiter gewesen war. Und so gelangt er schließlich auf die Spur, auf ihre Spur: „Er kippte das Restbier in einen der Blumentöpfe, trat vom Balkon in die leere Wohnung zurück, steckte den halb geladenen Akku in seinen alten Camcorder, schaltete in den Wiedergabemodus und spielte die letzte Aufnahme ab, die er mit dem Gerät gemacht hatte. Kurzes Klacken, die Mechanik einer analogen Technologie, das leise Surren, der Geruch der Kunststoffhülle, das Gesicht einer Frau, in Großaufnahme, am seitlich ausgeklappten Display. Der Blick. Ihr Blick: Theresa!“ (S. 38)
Theresa Wolf war Lorenz’ Jugendfreundin, die nach dem Tod ihrer Mutter (die vom „System“ zermalmt worden sei) mit der Gesellschaft brach, sich als Aussteigerin in die Berge zurückzog, nur mehr selten sehen ließ und dann für immer ausblieb. Als nun Lorenz in der Boulevardpresse von einem mysteriösen Wesen liest, das in den Alpen sein Unwesen treibe, kommt ihm der Gedanke, dass es am Ende Theresa selbst sein könnte, die ihren Rachefeldzug gegen das System angetreten hat. Lorenz vertieft seine Recherchen, türmt (da ein befreundeter Psychologe, wohl im Auftrag Klaras, behütend vor der Wohnungstüre schläft) durchs Fenster aus der Wohnung, rüstet sich für die Berge und fährt ins Karwendelgebirge, wo sich die „ominösen Vorkommnisse“ (S. 135) um eine von ihm rekonstruierte Mitte gruppieren, auf die er nun zumarschiert …
Auf seiner reichlich fiebrigen Wanderung durchs Gebirge gibt sich „Lenz“ (man soll wohl nicht von ungefähr auch an Büchner denken) den Erinnerungen an Theresa hin, die er „im Stich gelassen“ und „aus seinem Leben ausgeblendet hätte“ (S. 161). Sie, die ihm auf einer gemeinsamen Bergtour einst erklärt hatte, wie einfach es doch sei, den sozialen Irrsinn hinter sich zu lassen: „Abtauchen ist eigentlich ganz einfach. Sag, du bist weg. Schalt alle Kanäle ab! Sei nicht wehmütig. Und begrab dein Gewissen! Was das System uns abverlangt, führt zu leeren Hüllen. Aber das weißt du schon lang, oder? Fühlst dich doch auch zunehmend. Ausgehöhlt … Meine Mutter wurde vollkommen aufgefressen von diesem System…“ (S. 258)
Dass die Wanderung durchs Gebirge eine Art Selbstläuterung (das Wort „Katharsis“ wird Lorenz zurückweisen) herbeiführt, darf verraten werden, inwieweit und in welcher Form es tatsächlich zu einer Begegnung mit dem „Monster“ (S. 163) kommt, sei der individuellen Lektüre anheimgestellt. Noch sei erwähnt, dass Arzt im hinteren Teil des Buches die Erzählperspektive wendet und wir dann Klara folgen, die sich auf die Suche nach ihrem Ex-Mann macht, dessen letztes, keineswegs beruhigendes Lebenszeichen aus den tiefen Tiroler Bergen gekommen war und dessen Ausriss, soweit die Indizienlage, etwas mit jener sonderbaren Theresa Wolf zu tun haben dürfte, die zu Beginn ihrer Ehe immer wieder mal für ein paar Tage aufgetaucht war und deren abwegige, ja kindische Gedanken über „das System“ Klara nie recht ernst zu nehmen vermochte.
Thomas Arzt bezeugt als Autor enorme Fähigkeiten, wenn es um die plastische Entfaltung zwischenmenschlicher Konfliktfelder, um die zugespitzte, mitunter auch überzeichnete Charakterisierung von Typen vermittels ihrer (oft verkümmerten) Sprache geht. Die johlende Jägertruppe etwa, die Lorenz bei der Peinigung einer Gams beobachten und filmen wird, schildert Arzt mit einer dialektalen Prägnanz, die schier umwerfend ist. Man fühlt sich schaudernd hineingestellt in die Infamität einer verrohten Gefühls- und Lebenswelt, die sich sprachlich in ihrer beängstigenden Engstirnigkeit, Bosheit, Gewaltbereitschaft bekundet. Der Erstlingsroman Die Gegenstimme hatte dieses dramatische Potential eines vielgestaltigen Erzählens voll ausgeschöpft (und bis heute frage ich mich, wieso jenes Buch damals nicht wenigstens nominiert wurde für den Österreichischen Buchpreis).
Auch der neue Roman hat Passagen, wo dieses dramatische Mit- und Widerspiel pointierter Figurentypen treffliche Analysen gesellschaftlicher Zustände erlaubt. Auffallend zumal, dass die sprachliche Zuspitzung vor allem dort funktioniert, wo die Entlarvung von Unzulänglichkeiten, Pathologien und Wirrnissen unserer Sozialwelt intendiert ist, überall dort also, wo es um unsere politischen, ökonomischen und medial-globalen Miseren geht. Der Mensch in seiner Innerlichkeit, seiner Bewusstseinsganzheit kommt in diesem Buch nach meinem Eindruck hingegen nicht vollends in den Blick bzw. nicht zu dem ihm gemäßen Wort. Er ist erahnbar in der (allerdings nur behaupteten, nicht fühlbaren) Verzweiflung, Verzagtheit (denn, so bricht es einmal heraus aus ihm, „aus Zweifel wächst Verzweiflung“ (S. 253)) und aufgrund der Komik seines närrischen Gebarens. Wenn Arzt seine Lenz-Figur fiebernd im Gebirge die eigene Verworfenheit beklagen lässt, muss man sich aber zuerst an Büchner erinnern, um ein Gespür dafür zu bekommen, was hier auf dem Spiel steht.
Möglich freilich, dass Arzt selbst die Figur durchwegs komisch und verzerrt, mithin als Abbild eines bloß noch von Innerlichkeit raunenden, diese aber nicht mehr lebenden Menschentums angelegt hatte. Dafür spräche auch, dass sich Lorenz am Ende seines ‚Abenteuers‘ wieder dem Herkömmlichen (resp. dem ganz normalen alltäglichen Wahnsinn) fügt. Mit Thoreaus Walden in der Hand sieht man ihn in Erwartung von Tochter Emmi am „Lieblingstisch“ ihres „Lieblingscafés“ (S. 264) sitzen, der Blick geht raus auf das Wahlplakat mit der „Volkskanzlerfratze“ (S. 265), die grölenden Burschenschaftler am Nebentisch, er will schon aufstehen, „es knackte seine Faust“, bis endlich seine Tochter erscheint, er ihr in die Arme fällt: „Schön dich zu sehen.“ (S. 266)
Das klingt alles sehr zeitgemäß und ‚lebensnah‘. Und doch habe ich den Eindruck, dass es gerade diese allzu alltagsnahe, kurz angebundene, zuweilen fast stakkatoartige Denk- und Sprechrhythmik ist, die keine dauernde epischen Atmosphäre aufkommen lässt, wie sie ja doch nötig wäre, um (ohne Inszenierung, Bühnenbild und Schauspielerinnen) ein stetes Gefühl für das die Figur bewegende Movens zu erhalten. Im Ganzen blieben mir die Figuren des Buches, so sehr auch alles Einzelne ‚wirklichkeitsnah‘ und in glaubhaftem Ton erzählt wird, letztlich doch ziemlich fremd.
Dass der Einzelne in der empfundenen Ohnmacht den globalen wie nationalen Zuständen gegenüber zu einem bloßen Schemen wird, mag ja stimmen. Aber wäre von der Literatur, und sei es bloß dem (vielleicht nie ganz eingeholten) Anspruch nach, nicht dennoch zu erwarten, was ihr jene Schülerin in Lorenz’ Klasse absprechen wollte: dass sie zu einer Sprache findet, die all diese Ohnmacht dann doch wieder hebt; und sei es bloß, indem sie sie benennbar und beschreibbar macht? Aber, so frage ich mich jetzt, ist das dem Autor nicht eben doch gelungen? –– Frau lese und prüfe am besten selbst! Denn ob immer man das Buch in dieser Hinsicht für gelungen hält oder nicht; spannend zu lesen ist es allemal!
Franz Schörkhuber ist als Lektor für deutsche Sprache und Literatur in Bratislava tätig.