#Prosa

Das Buch Helga

Christina Maria Landerl

// Rezension von Marianne Jungmaier

Chronologie einer unbekannten Mutter

Es ist eine kluge Verfremdungsstrategie, die Christina Maria Landerl verfolgt, ihren Text als handelndes Subjekt zu benennen, nämlich: Das Buch Helga, und sich auf diese Weise einer Unbekannten und letztlich dem Unmöglichen anzunähern.

Es sei kein Anfang, schreibt die Autorin auf Seite 7: Gleich zu Beginn erfährt man, wie Das Buch Helga ausgehen wird. Mit schonungsloser Direktheit lockt uns Landerl in den Text, macht neugierig auf das, was kommen wird: ein vorsichtiges und präzises Sondieren, Beschauen und Untersuchen eines Menschen, einer Fremden, der Mutter der Ich-Erzählerin. Während des Lesens bleibt eine Distanz zur Figur der Helga bestehen, die – wie die Autorin zu Beginn des Buches festhält – für alle anderen Helgas, alle anderen (unbekannten) Mütter steht.

Der Blick meiner Mutter Helga auf diesem Foto sagt mir etwas, erinnert mich aber nicht an meine Mutter. […] Fünfzehn Jahre, nachdem das Bild gemacht wurde, lag sie im Sterben.“ (S. 7)

Ihre akribischen Untersuchungen beginnt Landerl zumeist mit Beschreibungen von Fotografien; es sind Rekonstruktionsversuche, dem Leben und der Persönlichkeit dieser Unbekannten nachzuspüren, sie in Bildern und Fantasien zu finden. Die Erzählerin hält sich an fremden Erinnerungen fest und verbindet diese mit Erdichtetem. Manchmal ist es ein Griff in ein Nichts, ein vergebliches Tasten, etwa, wenn von einem Video erzählt wird, das nicht mehr auffindbar ist (S. 122), oder von der Bibel, in der sich angeblich persönliche Notizen der Mutter befanden: „Hätte ich doch diese Bibel gefunden, wie viel mehr wüsste ich über Helga.“ (S. 121) Am Ende versteht man, dass selbst das Cover des Buches eine Chiffre zu Helga ist.

Stilistisch arbeitet die Autorin präzise und konzis, in knapper Form, in Versatzstücken und einer klaren Struktur. In kurzen Kapiteln, fast tabellarisch gliedert sie den Text. Zwischentitel helfen dabei, die Übersicht zu behalten, einzig ein Grund für deren Klammern erklärt sich nicht. Das Buch Helga ist grob unterteilt in den Lebensweg der Namensgeberin, beginnt bei einem Kind, Zögling, Mädchen, erzählt von einer jungen Frau und deren Familienleben, das mit Hochzeit und Namensänderung beginnt, darauf folgen Leidensweg und Sterben, bis sie auf magische Weise in den Text zurückkehrt.

Landerl dichtet der Figur der Helga ein Leben an, in einer knappen, stakkatohaften Sprache, die dichte Szenen, einen Sog erzeugt. Kein Wort ist zu viel, die Bilder des Textes vibrieren in leicht vergilbten Farben, eingesprenkelt darin hiesige Ausdrücke. Vielen, die im ländlichen Österreich aufgewachsen sind, wird die Welt, die Landerl skizziert, umreißt, nacherzählt und erfindet, bekannt sein. Kürze und Abstraktion sind Stärken des Buches. So werden Namen und Orte abgekürzt, oder es berichtet die Ich-Erzählerin fast lapidar von Helgas Todestag: „Helgas Kinder sind nicht da […], als sie stirbt, wie auch schon die Tage davor. Sie essen an diesem Nachmittag Torte; der neunte Geburtstag des Kindes, das ich war, steht bevor, doch es ist klar, dass er nicht gefeiert werden kann.“ (S. 134)

The only ghost was me

Das Buch Helga stellt viele Fragen, etwa auf S. 46, wo die Erzählstimme darüber nachdenkt, wie ihre Mutter Helga die Zeit im katholischen Internat Sankt Anna verbracht hat. Die Autorin verortet damit die Erzählstimme, schafft eine Verbindung zu einer realen, obgleich fiktiven Person, und verankert die Erzählung in der Gegenwart. Unweigerlich stellt man sich als Lesende die Frage, so man sie selbst nicht beantworten kann, wie es sein muss, wenn die eigene Mutter allzu früh verstirbt, wenn es niemanden gibt, dem man Fragen stellen kann. In diesem Sinne gelingt Landerl das Kunststück, ihr eigenes literarisches Lauschen in dieser Leere anschaulich zu machen.

Das Spannungsfeld von Realität und Fiktion, von Erinnerung und Fantasie, in dem sich das Buch bewegt, zeigt sich in einem Zitat von Leonhard Cohen zu Beginn des Buches: „I’m so sorry for the ghost I made you be / only one of us was real / and that was me“. Ihm stellt sie einen Psalm aus der Bibel gegenüber, die die Mutterfigur gerne gelesen hat. (S. 5)

Dass Cohen die Verbindung zur Erzählerin ist, wird im letzten Drittel des Textes ersichtlich, wo sich der Text verändert, plötzlich englische Versatzstücke und Kapitelüberschriften auftauchen. In diesem Teil ist Helga erwachsen, werden die finalen Jahre, Momente des Ichs mit der Mutter beschrieben. Die fremdsprachigen Textsplitter verstärken die Präsenz der Erzählerin, sie nimmt mehr Raum ein.

Am Ende des Buches kommt es zu einer Rückkehr der Mutter, ob in der Fiktion der Ich-Figur oder der literarischen Realität des Textes, wird offengelassen, vielleicht ist dies auch nicht wichtig. Es ist die Magie von Literatur: jene, über die wir schreiben, unsterblich zu machen. Sie lässt uns Wunschbilder zeichnen, die dasselbe Schimmern tragen wie Erinnerungen: „Das ist nicht das Ende“, heißt es auf Seite 135.

Ein Raum für das Unmögliche

Landerl hat die Chronologie einer unbekannten Mutter geschrieben, und lässt sich dabei über die Schulter schauen. Der Text oszilliert zwischen der Stimme der Ich-Erzählerin und der Autorin, die sich allerdings – im Gegenteil zu anderen Büchern, die sich mit dem Tod eines Elternteils beschäftigen – auf angenehme Weise nicht wichtig nimmt. Bei Landerl wird keine persönliche Trauerbewältigung als Motivation für das Werk spürbar. Vielmehr vermag es die Autorin, eine Trauer anzusprechen, die wir alle empfinden, wenn wir einen geliebten Menschen verlieren – und lässt Dankbarkeit dafür empfinden, ihrem literarischen Prozess beiwohnen zu können.

Christina Maria Landerl hat ein zartes und starkes Stück Prosa geschaffen, das in klarer Form, tastend und suchend, einen Raum öffnet, um vom Unmöglichen zu erzählen: dem Verschwinden des Menschen, der uns das Leben geschenkt hat.

 

Marianne Jungmaier, studierte Digitales Fernsehen, Medien und Kulturwissenschaften (B.A.) und Journalismus (M.A.). Veröffentlicht Prosa und Lyrik, zuletzt den Gedichtband Gesang eines womöglich ausgestorbenen Wesens (Otto Müller, 2024). Homepage von Marianne Jungmaier

Christina Maria Landerl Das Buch Helga
Prosa.
Salzburg: Müry Salzmann, 2025.
144 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag.
ISBN 978-3-99014-268-4.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autorin

Homepage von Christina Maria Landerl mit einem Video von der Wien-Premiere in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur in Wien

 

Rezension vom 10.04.2025

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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