// unveröffentlichte Texte aus der exil.Literaturhauswerkstatt

 

Alex Zett
Am Bahnhof

Die Gespräche in dem kleinen Bahnhofscafé rauschten, genauso wie die Autos draußen im Regen.
Bahnhofsdurchsagen hallten herein. Die Kaffeemaschine summte.
In Judiths Kopf rauschte es auch. Vor ihr saß Johanna.
Johanna. Judith sah sie an als wäre sie eine Erscheinung. Es kam ihr so unwirklich vor, ihr jetzt so gegenüber zu sitzen. Als könnte sie jederzeit wieder verschwinden. Aber Johanna verschwand nicht.
Um Johannas Augen lagen Falten. Ihr Blick war gesenkt, doch auch so wusste Judith, dass ihre Augen dunkelbraun waren. Um Johannas Mund taten sich ebenfalls kleine Schluchten auf. Sie sah aus, als hätte sie viel gelacht in ihrem Leben.
Doch entdeckte Judith auch einige Falten auf Johannas Stirn.
Sie studierte das Gesicht der alten Freundin wie eine Landkarte, auf der sie alle Antworten auf ihre drängenden Fragen finden würde.
Noch rührte Johanna in ihrem Kaffee, aber bald würde sie etwas sagen, sie würden reden. Und Judith würde die Antworten in dem Gesagten finden.
Nur war sie sich jetzt doch nicht mehr ganz sicher, ob sie das wirklich wollte.

Vorhin, am Bahnsteig, war sie auf direktem Weg zu Wagen 9, Platz 29 gewesen.
Es wäre eine lange Reise geworden, und sie war knapp dran gewesen.
Da hatte sie sie von hinten gesehen, als eine Fremde, eine weitere Reisende. Dann hatte die sich umgedreht und Judith hatte ihr Gesicht gesehen. Ihr Gesicht, das sie in tausenden anderen Gesichtern erkennen würde. Auch nach all den Jahren.
Kurz war es ganz still in Judith geworden. Eine Wiese. Ein Pferd. Ausgesprochene Worte. Unausgesprochene Wortberge. Eine Teestube, orangenes Licht. Zwei dampfende Tassen. Eine Hand in ihrer, wieder eine Wiese. Eine Sommerwiese. Röcke, die um Beine schlagen. Sommersprossen. Und Johannas Lachen. Alles war wieder da gewesen, hell und klar in ihrem Kopf. So lebendig, als wäre es gestern passiert. Dann war Judith bewusst geworden, dass sie noch immer am Bahnsteig stand, den Koffer neben sich.
Johanna hatte sie nicht erkannt. Erst als sie näher auf sie zugekommen war und irgendwann ihren Namen gesagt hatte, war ihr Blick zunächst starr, dann weich geworden.
Während neben ihnen der Zug langsam aus dem Bahnhof fuhr, hatten sich die beiden Frauen vorsichtig umarmt. Judith war alles unwirklich vorgekommen, Johanna roch nach Wald und Erde, nach Zigaretten und einem Waschmittel, das sie nicht mehr kannte.
Sie hatten nicht viel gesagt. Judith hätte nicht gewusst, wie, und was, und wo anfangen. Dreißig Jahre sind zu viel Zeit um sie in ein kurzes Gespräch zwischen Bahnsteig und Zugtür zu packen.
„Hast du Zeit?“, hatte Johanna sie gefragt. Judith hatte genickt. Und nun waren sie hier. Judith hatte Chai bestellt, obwohl sie den sonst nie trank.

„Du trinkst Chai?“
– „Eigentlich nicht, nein.“

Der Chai war gut, vielleicht sollte sie öfter neue Dinge ausprobieren.
In Judiths Kopf drehte sich immer noch alles, sie konnte keinen ihrer Gedanken wirklich greifen.
Dann, endlich, sah Johanna hoch. Die Berührung an Judiths Hand war unerwartet, doch sie zog die Hand nicht weg. Sie spürte in ihrem Hals und ihrer Brust, dass diese kleine Verbindung zwischen ihren Händen nicht ausreichte.
Ihr Herz schlug schnell, auf eine Art und Weise von der sie gar nicht mehr wusste, dass es das konnte.
Sommerwiese, Sommerwiese.
Judith wusste, jetzt war der Moment zum Reden gekommen.

„Wo warst du?“, fragte Johanna.

Wo war sie gewesen? Judith holte Luft. Sie war in Berlin gewesen, in Wien, in Linz, kurz sogar in Amsterdam, und jetzt hier. Schon lange. Wegen Ingrid. Und dem Job. Ingrid.
Ging es Johanna um die Orte? Oder ging es um ihr Leben, das an diesen Orten und überall dazwischen stattgefunden hatte? Die Wohnungen in denen sie gewohnt, die Menschen die sie kennengelernt und wieder verloren hatte.

Dreißig Jahre. Dreißig Jahre ohne Johanna. Obwohl sie da sein hätte sollen, in jedem einzelnen Jahr. An jedem Geburtstag und an jedem anderen besonderen Tag in ihrem Leben, nein auch an allen anderen.
In den ersten Jahren hatte sie Johannas Abwesenheit gespürt, wie einen Schatten, der sie verfolgte, egal wie weit weg sie ging.
Irgendwann hatte sie sie fast vergessen. Natürlich nicht wirklich, und vor allem jetzt, wo sie ihr gegenüber saß, so lebendig, so nah, und ihre Hand hielt, war sich Judith fast sicher, dass sie Johanna nicht vergessen, sondern eher verdrängt hatte.

Sollte sie davon erzählen, von dem Schmerz in den Monaten danach? Von den unzähligen Malen, wo sie Briefe angefangen aber nie beendet und schon gar nicht abgeschickt hatte? Von den Momenten in denen sie ihre alte Nummer gewählt aber nie angerufen hatte? Von den Erinnerungen, die verblasst waren, aber nie ganz verschwunden?
Judith wollte ihr Leben nie ohne Johanna leben, so war das nicht geplant gewesen. Sollte sie ihr von Ingrid erzählen?
Judith beschloss, erst von den Orten zu erzählen. Sie waren sowieso untrennbar mit allem anderen verknüpft.

„Ich bin nach Berlin gegangen.“

© Alex Zett

Alex Zett ist 20 Jahre alt und wohnt seit 2 Jahren in Wien. Alex ist nichtbinär und queer und ist aktiv für queerfeministische Themen und Klimagerechtigkeit. Etwas gestresst ist Alex gerade am Weg zur Matura, der sich etwas steiniger gestaltet als erhofft. Außerdem ist Alex begeisterte*r Teetrinker*in und Prokrastinator*in und schreibt.

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