... aus dem LHW Textforum 2024

Anna Ladurner Über alle Berge (Arbeitstitel)

Inhaltsangabe zum Projekt:
Eine Frau kehrt in ihre Heimatstadt Innsbruck zurück und sitzt am Krankenbett ihres verheirateten Geliebten. Sie umsorgt ihn, pflegt ihn, nimmt Raum ein. Die Grenzen zwischen liebender Fürsorge und subtiler Übergriffigkeit kommen ihr dabei zunehmend abhanden.
Zugleich taucht Hannah, das Kind, das sie einmal war, in der Gegenwart auf. Erinnerungen an den Vater verschwimmen mit Fantasien über eine Zukunft mit dem Geliebten. Und letztlich dreht sich alles um die Frage: Wer sind wir, wenn wir lieben? Und wie sind wir dazu geworden?

 

Man hat die Jalousien heruntergelassen, damit du schlafen kannst. Keine Aussicht. Keine Welt, die hereindringt zu dir. Ich halte die Luft an, setze einen Schritt vorsichtig auf den grauen Plastikboden und dann noch einen. Man hat dich auf den Rücken gelegt. Den Kopf leicht erhöht. Besser für die Atmung, hat man mir gesagt. Und dass die Schmerzen in dieser Stellung vielleicht. Du bist Bauchschläfer. Du bist Seitenschläfer. Du bist kein Rückenschläfer. Die Haare kleben an deiner Stirn. Sie sind grauer als sonst. Du schläfst deinen Krankenhausschlaf. Den Schlaf nach dem Nicht-schlafen-Können. Nach dem Geweckt-Werden im Morgengrauen. Nach dem Frühstück, das sie dir hingestellt haben und das du weggeschoben hast. Nach dem Waschen und Nachthemd-Wechseln, den Händen der Schwester auf deinem Körper. Nach der Visite und dem Chefarzt mit seinem Das wird schon, Herr Schwarz.

Ich suche nach dem Gefühl. Ich bin vier Stunden im Zug gesessen für dieses Gefühl. Ich will es spüren das Ja, das Bedingungslose. Ich will sie hören, die Stimme, die sagt, der und kein anderer. Ich will es, das Hüpfen in der Brust und das Ziehen. Ich stehe in deinem Zimmer. Die Luft steht. Die Zeit steht. Du liegst vor mir. Nichts regt sich. In deinen Mundwinkeln hat sich Speichel gesammelt. Er ist eingetrocknet. Weiße Ränder haben sich gebildet.

Der Vater hatte beim Schlafen auch so einen Speichelrand, sagt Hannah neben mir. Und dich hat es gegraust, sagt sie. Du hattest Angst, dass er aufwacht, und dich küsst mit den Speichelrandlippen. Und dass du dich abwendest, den Kopf wegdrehst, ganz automatisch. Du hattest Angst, dass du ihn enttäuschst. Blödsinn, sage ich. Ich schiebe Hannahs Hand, die nach meiner greift, weg von mir. Der Vater hat nicht geküsst, sage ich. Der Vater war einer, der hat sich küssen lassen. Gute-Nacht-Papa-Küsse hat er sich geben lassen. Bis-am Abend-Papa-Küsse. Vielen-Dank-Papa-Küsse. Aber geküsst hat er nicht.

Die Tür geht auf. Ich zucke zusammen. Störe ich?, fragt jemand. Nein, sage ich, ohne mich umzudrehen, greife nach dem Nächstbesten. Erwische einen Stuhl. Ich ziehe ihn zu mir, lege meinen Mantel über die Lehne und den Schal obendrauf, stelle den Rollkoffer daneben ab. Damit alles seine Richtigkeit hat. Ich bin zu laut. Du wachst auf. Der Pfleger verdreht die Augen, wirft einen Blick auf dich. Und bei Ihnen, Herr Schwarz?

Ich nehme deine Hand, küsse dich auf die Stirn und sage, ich bin da. Hannah beugt sich über den Vater, nimmt seine Hand, die Hand ist kühl und viel zu leicht, und sagt, ich bin da. Der Vater reißt die Augen auf. Da ist ein Leuchten. Von weit her. Er erkennt sie. Du hältst die Augen geschlossen. Paul, sage ich und küsse dich auf die Stirn, ich bin da, Paul. Ich möchte es sehen, das Leuchten. Ich möchte, dass du mich erkennst.

Es hat sich etwas eingeschlichen in deinen Geruch. Etwas Säuerliches, das vorher nicht da war. Man kann sich nicht wehren gegen einen Geruch. Er zieht einem in die Nase, legt sich unter die Haut und ums Herz. Ich merke, dass ich die Luft anhalte, wenn ich mich über dich beuge. Nicht lang. Nicht absichtlich. Aber da ist ein Stoppen im Luftstrom. Da ist etwas, das zumacht in mir. Deinen Geruch nicht hineinlässt in mich. Umso mehr strahle ich dich an.

Der Vater riecht gut. Auch ganz am Ende noch. Selbst wenn er sich aufbäumt im Bett, rasselt und Gelbes hustet. Selbst wenn Hannah sich über ihn beugt, weil sie den Spucknapf braucht und die Tücher, die am Nachttisch stehen, auf der anderen Seite vom Bett. Und ihm über dem Mund wischt mit einem Zellstofftuch und noch einem. Er riecht gut, obwohl da viel Gelb ist heute. Und sie rubbeln müsste, weil es klebt, das Gelbe, sich aber nicht zu rubbeln traut, weil die Haut des Vaters so durchsichtig glänzt. Und sie sich nicht wehren kann gegen das Bild, dass das Innere des Vaters sich jetzt nach außen stülpt und über sie drüber mit dem ganzen Schmerz. Und sie nicht weiß, wohin mit dem Spucknapf und den schleimigen Tüchern in ihrer Hand. Und keine Schwester in Sicht ist, die helfen kann. Selbst dann riecht der Vater gut.

Auch du sollst gut riechen, damit ich dich einsaugen kann in mich, ohne Wenn und Aber.

© Anna Ladurner

Anna Ladurner, Foto: © Johann & Egon Ladurner

Anna Ladurner (*1975 in Innsbruck) hat in Innsbruck, Madrid und Wien Germanistik und Hispanistik studiert und u. a. in Albanien, Brasilien und Vietnam und in unterschiedlichen Institutionen (von der Universität bis zur Justizanstalt) Deutsch als Fremd- und Zweitsprache unterrichtet. War dann – wieder reisend und unterrichtend – im Menschenrechts- und Flüchtlingsbereich tätig (UNHCR, ÖRK). Lehrt nun autobiografisches, expressives, wissenschaftliches und berufliches Schreiben in Wien (www.writersstudio.at). Publiziert in Literaturzeitschriften. Arbeitet an ihrem ersten Roman Über alle Berge, für den sie das Hilde-Zach-Literaturstipendium der Stadt Innsbruck 2021 erhalten hat.

 

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