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Es ist ein hässlicher Traum, der dich das nächste Mal auf die verschlafene, dämmrige Straße treibt. Der Wind pfeift dir schneidend um die Ohren, und doch ist das Spazieren besser als dich im eigenen Grauen zu wälzen. Es war ein gewaltvoller Traum, wieder einmal, und du weißt nicht, kommst einfach nicht dahinter, warum dein Kopf dich diesen Bildern ausliefert. Du lässt die Bernardgasse und den Geruch von Hundekot hinter dir und biegst rechts ab. Die Frau steht auf, als du dich näherst. Ihr nickt einander zu, doch bevor du an ihr vorbeigehen kannst, streckt sie die Hand aus und sagt: Sanya.
Du schämst dich für den Sekundenbruchteil, in dem du zögerst, die angebotene Hand zu ergreifen. Die Scham lässt dich innerlich kurz wanken. Du dachtest nicht, wusstest nicht, dass du, gerade du, die doch alle anderen immer verurteilt –
Taumelnd greifst du nach der Hand. Sanya beobachtet dich mit klarer Eindringlichkeit. Als sich eure Hände umschließen, zuckt ihr linker Mundwinkel. Teresa, antwortest du und wunderst dich wieder, diesmal über die Stärke des Händedrucks. Erneut durchfährt dich ein Gefühl der Beschämung. Muss eine obdachlose Frau denn eine schwache sein?
– Tersa?, fragt sie.
Du zuckst halb bestätigend mit den Schultern. Dein Name, die Korrektheit deines Namens kommt dir klein und bedeutungslos vor, im Angesicht dieser Person, die heimatlos und kraftvoll deine Hand hält. Der Wind fegt kalt über eure Begegnung. Es ist das Drängen des Windes, das euch beide unaufhaltsam aufeinander zuschiebt, so erklärst du es dir im Nachhinein, als Sanya plötzlich an deinem Küchentisch sitzt. Geduscht, in frischen Kleidern, die sie aus ihrem kleinen Rucksack gezogen hat, nippt sie neben dir an ihrem Kaffee und blickt aus dem Fenster.
– Keine Arbeit?, fragt Sanya in die Stille, mit unsicheren Silben.
– Erst am Nachmittag.
Sie nickt. Dann steht sie auf und bedankt sich. Du folgst ihr ins Vorzimmer. Dein Blick fällt in das kleine Zimmer, das an den Flur anschließt. Die Bücherregale, deckenhoch. Die Kommode vom Flohmarkt in der Pfarre, ein Schnäppchen, nur ein paar Hunderter hast du ausgegeben, ihr biedermeierlicher Wert liegt weit darüber, erzählt dir jeder. Das Ledersofa, von deinen Eltern geerbt. Die ganze Wohnung ist finanziert durch ein Erbe, für das deine Eltern noch nicht einmal sterben mussten. ‚Vorgezogen‘ sagen sie jetzt immer in Kombination mit ‚Erbe‘. Plötzlich weißt du nicht, wofür du dieses Zimmer brauchst, ob sich überhaupt etwas in der Wohnung befindet, für das du das Wort ‚brauchen‘ anwenden könntest. Wie kann ein ganzes Leben in einen Rucksack passen, ein anderes in eine Wohnung von 50 Quadratmetern? Und einen Keller, musst du nachsetzen, denn ein Großteil deines Besitzes verweilt in Kisten bei deinen Eltern: Alte Kinder- und Schulbücher, DVDs, Malsachen, in die Jahre gekommene Notiz- und Tagebücher, Kuscheltiere, einige Wintersachen, auch die Eislaufschuhe, daneben dein altes Rad, der CD-Player. Vielleicht wird etwas davon irgendwann wieder gebraucht, aber im Moment hast du keinen Raum dafür.
Sanyas Blick folgt deinem, beim Sofa flackert er kurz auf. Du schüttelst entschieden den Kopf: Du kannst nicht mit nassen Haaren in die Kälte hinaus.
Sanya starrt dich kurz an, dann lacht sie laut auf. Rau gellt ihr Lachen durch die Wohnung. Wieder überkommt dich die Scham; wie kannst du deine eigenen Maßstäbe an dieser Person anlegen, die ein Leben parallel zu deinem führt, zwar in derselben Stadt, aber ohne Überschneidungspunkte?
– Das ist okay, sagt Sanya.
– Nein, wirklich. Möchtest du nicht ein bisschen bleiben? Ich… Du verstummst.
– Wieso?, gibt Sanya zurück, und darauf hast du keine Antwort, die Worte wollen nicht kommen, denn es gibt keine Grundlage für sie, keinen Gedanken, nichts außer einer Emotion, die du am ehesten mit Schuld benennen würdest, oder Mitleid, wahrscheinlich beides in einem, und wenn du ganz ehrlich wärst, müsstest du sagen: Damit ich mich besser fühle.
– Weil Platz ist, sagst du schließlich.