... aus dem LHW Textforum 2024

Katrin Oberhofer  So rollen wir

 

Papa lässt den Motor seiner Moto-Cross-Maschine am Stand aufheulen, ein brandneues Gerät, das seit Herbst in der Garage steht. Weiß lackierter Tank, mit einem blauen und einem roten schräg verlaufenden Streifen, die Nummer 58 steht quer darüber, in Schwarz. Ich bin stolz, dass ich diese Zahl schon lesen kann – ich kann schon bis hundert zählen, obwohl ich erst im Herbst in die Schule komme.

Papa schüttelt sich das lange, dunkle Haar aus dem Gesicht und schiebt die Sonnenbrille hoch, sodass sie die Strähnen aus dem Gesicht hält. Die Sonnenbrille, die Maschine, seine Haare, alles leuchtet im grellen Sonnenlicht direkt nach dem Regenguss.

Der Motor tuckert jetzt im Leerlauf vor sich hin, Ikaros und ich stehen in der Haustür. Wir wollen beide gern mitfahren, aber Mama ist hinter uns getreten, eine Hand liegt auf meiner Schulter, eine Hand auf der Schulter meines Bruders, schwer. Ihr Griff wird einen Moment härter, als Papa uns mit einer ausladenden Geste deutet, zu kommen.
„Steigt beide auf,“ ruft er. „Das schaffen wir schon.“

Ich spüre schmerzhaft Mamas Fingernägel in der weichen Haut zwischen Schlüsselbein und Schulter, bevor sie loslässt und ich zu Papa laufe. Er hebt mich auf den Tank des Motorrads vor sich, der schwarze, breit gezackt Schraubverschluss reibt an meinem Oberschenkel, Ikaros sitzt hinter ihm auf dem Ledersitz. Es riecht nach Abgasen und Schweiß, Papa zeigt mir, wie ich mich am Lenker festhalten kann, ohne ihn beim Fahren zu stören. „Nur innen,“ sagt er, „wo das Metall ist.“ Meine Hände schwitzen vor Aufregung. Die Sonne blendet mich. Je fester ich mich an den glänzenden, glatten Teil des Lenkers klammere, desto rutschiger fühlt er sich an.

„Was ist?“, schreit Papa in Mamas Richtung. „Bringst du jetzt den Korb?“
Sie steht immer noch da und schaut uns zu, aber wir alle wissen, was später passieren wird, wenn sie nicht spurt.
Also wendet sie sich um in den dunklen Hauseingang und kehrt kurze Zeit später mit dem geflochtenen Weidenkorb zurück, den wir zum Pilzesammeln verwenden. Die Öffnung des Korbes ist mit zwei halbkreisförmigen, gerafften Stoffstücken zugenäht, weiße Blümchen auf rotem Grund. Wo die Hälften aufeinandertreffen, sind die Ränder mit einem Gummiband vernäht, sodass man hineingreifen kann, aber nichts herausfällt, selbst wenn man den Korb über Kopf dreht, wie Ikaros und ich es manchmal machen.

Ikaros löst seinen Griff um Papas Bauch kurz, um den Korb auf seinen Unterarm zu schieben. Dann schlingt er wieder beide Arme um Papa.
„Lass wenigstens die Kinder da,“ murmelt Mama, aber ich bin nicht sicher, ob ich es überhaupt gehört habe. Denn sobald wir den Korb haben, fährt Papa los, zuerst langsam zur Einfahrt hinaus, auf offener Straße gibt er Gas. Ich fühle, wie er durchschaltet, beschleunigt, der Fahrtwind treibt mir brennende Tränen in die Augen.

„Rock and Roll!“, höre ich Papas begeisterte Stimme, als wir von der asphaltierten Straße auf den unebenen Waldweg wechseln, auf dem die Maschine hüpft und bockt. Ich beiße die Zähne zusammen, Ikaros jauchzt hinter Papa, oder ist es ein Angstschrei? So oder so brauche ich all meine Kraft und Konzentration, um mich festzuhalten.
Dreck und Erdbrocken spritzen hinter uns hoch, das Geräusch des Motors wechselt in ein unebenes Auf-und-ab-Heulen. Der Weg führt jetzt steiler bergauf, mündet in einen Hohlweg, auf dem die Zweige der Bäume so weit herunterhängen, dass sie mich im Gesicht und auf den nackten Beinen treffen. Eine Sandale habe ich schon verloren.

Papa flucht, als wir beim ersten Schwammerlplatz absteigen, und er mich mit einem nackten, einem beschuhten Fuß auf dem Waldboden stehen sieht. Der Motorradständer rastet ein, aber zur Sicherheit stellt Papa die Maschine knapp neben einen Baum, falls die regenfeuchte Erde doch noch nachgeben sollte. Sie darf auf keinen Fall umstürzen, das wäre eine Tragödie.

Quer zum Hang gehen wir einige Meter auf einem schmalen Fußweg in den dichter werdenden Wald hinein, bald verliert sich der Pfad in einem Fichten-Jungwald. Dort müssen wir die Zweige mit den Händen auseinanderbiegen, um vorwärtszukommen. Ich halte genug Abstand von Ikaros, der vor mir geht, damit mir nicht ein losgelassener Zweig ins Gesicht schnellt. Schließlich weichen die Bäume weiter auseinander, nasse Farne schlagen gegen meine nackten Unterschenkel und ich versuche von Moospolster zu Moospolster zu hüpfen, damit ich mit meinem schuhlosen Fuß nicht auf Steinchen, spitze Zweige und Fichtennadeln treten muss.

Dann stehe ich auf der Lichtung. Auf jedem Grashalm, auf jedem Blatt funkeln glitzernde Topfen. Dampf steigt auf, wo die Regentropfen in der Hitze verdunsten. Noch nie habe ich so viele Pilze auf einmal gesehen.
Steinpilze mit braunen Kappen, und Fliegenpilze, rot mit weißen Punkten, wo die Bäume dichter beisammenstehen, Parasole am Rand der Lichtung, groß wie Suppenteller. Direkt vor mir, leuchtend gelb im Moos, Eierschwammerln. Überall sprießen noch weitere Pilze in allen möglichen Formen und Farben.
Ich pflücke einen Lamellenpilz mit heller Kappe. Sobald die Bruchstelle des rötlichen Stammes mit Luft in Berührung kommt, verfärbt sie sich blau. Ein Satanspilz, giftig – ich werfe ihn schnell wieder weg.
Ikaros und ich knien uns auf den Waldboden, sammeln die essbaren Pilze ein, schneiden Erde und Dreck gleich weg, wie Oma es uns beigebracht hat.
„Glückspilze,“ sage ich zu Ikaros. Alle drei lachen wir, zusammen.
„Das,“ sagt der Vater, „ist unsere Art zu leben. This is how we roll.“
Und später, als wir mit gut gefülltem Korb grinsend den Rückweg zum Motorrad antreten, setzt er hinzu: „Wir gehören nicht zu den Idioten, die heuer keine Pilze im Wald sammeln.“

© Katrin Oberhofer
Erstveröffentlichung in D.U.M. – Das ultimative Magazin Nr. 108

 

Katrin Oberhofer, Foto: © Katrin Oberhofer

Katrin Oberhofer, aufgewachsen in Maria Saal, lebt mit ihren liebsten Menschen in Wien. Studium der Kultur- und Sozialanthropologie und Philosophie, Schreibtrainer:innen-Ausbildung am writers studio. Publikationen in den Literaturzeitschriften DUM, Litrobona, erostepost, Etcetera, die Rampe und Lyrikanthologien; unter den Gewinner:innen der Herbstausschreibung 2021 igfem.at, Finalistin des Wettbewerbs zeilen.lauf 2021.

 

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