... aus dem LHW Textforum 2024

Lop Strasoldo One Shot (Auszug)

Zum Inhalt:
Im Jahr 1967 ist der junge Journalist Alexander Schrabmannsdorff soeben von einer Arbeitsreise aus Israel zu seiner Zeitung in Bonn zurückgekehrt. Plötzlich interessiert sich jemand aus dem Wirtschaftsministerium für eines seiner in der Zeitung abgedruckten Fotos. Während Alexander sich Sorgen um seinen Arbeitsplatz macht, stellt sich heraus, dass eine sehr persönliche Geschichte hinter dem Interesse steckt.

Alexander Schrabmansdorff ging in den Keller und schob die Fahrräder auseinander, räumte sie nach draußen in den Gang, bis er, fast ganz hinten, sein eigenes blaues Fahrrad erreichte und es vor die Kellertür stellte. Dann ging er in den Keller zurück und schob all diese Fahrräder verschiedenster Größen und Farben wieder zu dem undurchdringlichen Haufen zusammen, der sie vorher gewesen waren und der sie immer waren, wenn er in den Keller kam, um sein eigenes Rad herauszukramen. Nie hatte er irgendjemanden aus dem Haus mit einem Fahrrad kommen oder wegfahren gesehen, aber fast immer standen schon nach einem halben Tag ein oder zwei Räder vor seinem eigenen, selbst wenn er nur einen Nachmittag und nicht wie jetzt für ein paar Wochen fort gewesen war.

Er klopfte den Staub vom Sattel. Dann warf er einen prüfenden Blick auf die Kette, die etwas Öl brauchen würde, denn auch hier hatte sich Staub auf die klebrige Oberfläche gelegt. Doch er konnte sich nicht entschließen, wieder nach oben in seine kleine Zweizimmer-Wohnung zu gehen und die Flasche mit dem Kettenöl zu holen, also schulterte er seinen Rucksack, trug sein Fahrrad auf die Straße, fuhr die Nussallee hinunter bis zum Poppelsdorfer Schloss, bog nach rechts ab durch diesen fast noch dörflichen Stadtteil der fast noch dörflichen Hauptstadt der Bundesrepublik, querte längs den Clemens-August-Platz, stieg in die Pedale, als die Straße sich langsam den Hügel hinaufschob und kam kaum zehn Minuten, nachdem er losgeradelt war, am Freibad auf der Melbhöhe an, schloss das Fahrrad ab, zückte an dem kleinen Büdchen mit dem freundlich nickenden alten Herren seine Jahreskarte und ging zu den schon etwas schmuddeligen orangen Kabinen, um sich umzuziehen.

Routiniert zog er sechs Bahnen im Wasser, vorbei an den Rentnern, die allein und langsam vor sich hin schwammen. Dann zog er sich an der Metallleiter hoch, ging über das trockene Gras zu dem neuen kleinen Becken mit der Gegenschwimmanlage, tauchte seinen Kopf unter Wasser, hielt sich mit dem Armen am Beckenrand fest und stemmte sich gegen den harten Wasserstrahl. Minutenlang ließ er sich das Wasser gegen die Brust pumpen, durch seine Haare, gegen seinen Rücken, bis seine Haut rot und gereizt war, seine Augen vom Wasserdruck und den Tränen geschwollen und er endlich, als er aus dem Becken stieg, auf seiner Haut keinen Sand mehr spüren konnte und in der Nase nicht mehr den Geruch von brennendem Öl und verbranntem Fleisch.

( … )

„Trotzdem muss ich mit Ihnen über eines Ihrer Bilder sprechen, Herr Schrabmansdorff. Setzen Sie sich doch bitte noch einen Augenblick hin, nicht wahr?“ Alexander zog den Stuhl wieder zu sich, setze sich erneut, was wollte sein Chef von ihm? Die Bilder, aufgenommen mit einer alten Leica, die er noch als Schüler damals einer alten Dame abgekauft hatte, waren sowohl von ihm als auch dem Korrespondenten in Jerusalem, Tienbaum, schon direkt nach dem Entwickeln vorsortiert worden. Alle drastischen und verstörenden Aufnahmen hatte Tienbaum zu Seite gelegt. Schweigend, routiniert und ohne Widerspruch zu dulden hatte er alle Bilder, auf denen Tote zu sehen waren, auf die linke Seite gelegt, die wenigen, die für die Zeitung in Bonn in Frage kamen, auf die rechte. Selbst wenn nur ein zerstörter Panzer oder ein ausgebrannter Jeep zu sehen war, wanderte das Bild auf die linke Seite. Bei einem der Bilder hatte er sich lange über die Wasserschale gebeugt. Es zeigte eine Reihe toter Kamele, die am Straßenrand auf der Seite lagen. Immer eins hinter dem anderen. Das Blut versickerte schwarz im Sand. „Ein gutes Bild“, sagte Tienbaum und fragte Alexander, ob er es aus einem Jeep heraus aufgenommen habe. „Ich saß auf oben auf dem Führerhaus eines LKWs“, antwortete er. Tienbaum nickte: „Daher die erhöhte Perspektive. Ich verstehe. Wenn du ebenerdig gestanden wärst, hättest du die Reihe niemals so lang nach hinten gezogen erwischt. Ein gutes Bild.“ Er beugte sich immer noch über die Schale mit Wasser. Langsam verschwand das Bild, das grade eben erst auf dem Papier erschienen war, wieder im weißen Nebel. Tienbaum holte es nicht aus dem Wasser. Es verdarb. „Ständen wir auf der anderen Seite, wäre es ein perfektes Foto: die lange Reihe toter Kamele, der Staub, den die israelischen Maschinen aufwirbeln, die Reifenspuren, die das wenige Gras niederdrücken, was in der Erde wächst. Die Fliegen. Kein Mensch ist zu sehen auf dem Bild, und doch würden alle Sympathien zu den Arabern gehen, wenn man dieses Bild sähe.“ Alexander schaute ihn an. „So habe ich das Bild nicht geschossen. Ich saß auf dem Führerhaus, weil es in drinnen in der Hitze und in dem Gestank unerträglich war.“

„Aber so würde es gesehen werden.“ Gemeinsam schauten sie zu, wie die letzten Konturen im Nebel verschwanden. Tienbaum zog das Fotopapier mit einer Zange aus dem Wasser, knüllte es zusammen und warf es in einen Papierkorb voller misslungener Entwicklungen und Bilder, die sich beim Auftauchen als zu schlecht erwiesen hatten. „Du hast ja noch die Negative. Die würde ich behalten, so was siehst du hoffentlich so schnell nicht wieder.“

„Um welches Bild dreht es sich denn, Herr Rosen?“ Langsam wurde Alexander ungeduldig, wenn es ein Problem gab, warum sprach der Chef es dann nicht offen aus? Es war ja nicht so, dass er gegenüber ihm, dem über 30 Jahre jüngeren Angestellten, zur Nachsicht verpflichtet wäre.

„Nun, Schrabmansdorff, dass kann ich Ihnen leider auch nicht so genau sagen, nicht wahr?“ Der Redakteur wand sich, die ganze Situation schien ihm selbst ebenso unangenehm zu sein wie Alexander. „Es ist so: Kurz bevor sie wieder in Bonn gelandet sind, klingelt bei mir das Telefon. Ein alter Bekannter aus dem Wirtschaftsministerium ruft mich an. Hat Karriere gemacht, der Mann. Ist ganz nach oben gekommen, steht direkt hinter´m Minister. Nun ja, der ruft mich also an, scheißfreundlich, und fragt, wer denn die Fotos für Ihre Artikel geschossen hätte. Ich sage ihm, dass ich solche Dinge nicht immer weiß, ich würde Sie dann halt mal fragen, wenn Sie zurück sind oder ich könnte meine Sekretärin im Büro nachfragen lassen, ob wir einen Kontakt zum Fotografen hätten. Und da ist es plötzlich vorbei mit scheißfreundlich und wie-geht´s-deiner-Frau und was-machen-die Kinder. Plötzlich raunzt mich der an, ich solle ihm gefälligst verraten, wer das Bild geschossen hätte. Ich würde doch wissen, in welcher Position er sich mittlerweile befände und so weiter und so weiter. Nun, ich konnte ihm ja doch nichts sagen, er also wieder freundlich: Er stünde tief in meiner Schuld, wenn ich die Sache in die Hand nähme. Sobald Sie in der Koblenzer Straße ankämen, solle ich Sie zu mir herbeizitieren und Ihnen dringlichst, nicht wahr, dringlichst klar machen, dass wichtige Leute zu wissen wünschten, wer diese Bilder gemacht habe.“ Der Chef schwieg, er war im Sessel immer näher gerückt, saß fast schon auf der Stuhlkante. „Ich habe meinem Bekannten versichert, dass ich Sie stehenden Fußes darüber in Kenntnis setzten werde, dass an höherer Stelle Interesse an Ihren Bilder besteht. Der Mann ist gut vernetzt, Sie müssen verstehen, und außerdem ist er doch ein alter Bekannter, wir haben damals nicht wenig erlebt zusammen, nicht wahr?“

Auch Alexander lehnte sich nach vorne. Die Sache verwirrte ihn. „Entschuldigen Sie, Herr Rosen, aber auf meinen Bilder ist doch weiter nicht viel Interessantes zu sehen. Es sind doch keine skandalträchtigen Bilder. Nichts, was man nicht auch auf anderen Bilder hätte sehen können. Ich verstehe das nicht ganz. Wen interessieren den Fotos, die ich mit meiner alten Leica aufgenommen habe? Der Herr Tienbaum hat mit mir zusammen alle in irgendeiner Form anstößigen Bilder aussortiert, nichts davon habe ich mit meinen Berichten hier an die Redaktion geschickt.“

Rosen unterbrach ihn. „Ja, mein Junge, das weiß ich. Ich bin natürlich schnurstracks zu Fink gegangen, der ja die Bilder zu verantworten hatte, und hab mir sofort sowohl alle Bilder zeigen lassen, die Sie uns geschickt haben, als auch die drei Bilder, die wir dann mit den Artikeln ins Blatt genommen haben. Und ich muss Ihnen sagen, ich konnte nichts, aber auch überhaupt nichts Spannendes an diesen Bilder sehen. Ganz normal, hätte ich gesagt. Nix Blutiges, nichts Reißerisches. Sonst hätten wir sie ja auch gar nicht in Druck gegeben, Sie kennen ja unsere Maxime. Wir sind ja kein Boulevardblatt, nicht wahr?“

„Aber was soll dann das Ganze? Was hat denn das Wirtschaftsministerium mit mir zu schaffen?“

„Ich weiß es nicht, mein Junge. Ich kann Ihnen nur versichern, dass die Zeitung und ich hinter Ihnen stehen. Wir haben die Bilder mitzuverantworten.“ Der Chef hatte sich wieder im Sessel nach hinten gelehnt. „Sie werden sich mit dem Herr treffen, der sich für die Bilder interessiert, werden ihm erzählen, wie die Bilder entstanden sind, und dann schauen wir weiter. Ich habe für Sie einen Termin ausgemacht. Heute Nachmittag um zwei im Maternus. Wahrscheinlich ist am Ende nichts, nicht wahr?“

Der Chef lehnte sich zurück und Alexander hatte sich wieder erhoben, das Gespräch war offensichtlich beendet. Er schob den Stuhl zurück an den Schreibtisch, nickte seinem Chef zu, der sich schon wieder einige Seiten vom Stapel auf dem Tisch genommen hatte und ging zu Tür.

„Schrabmansdorff“, der Herausgeber sprach ihn nochmal an, ohne den Blick von den beschriebenen Seiten zu heben, „passen sie auf. Der Mann, mit dem Sie sich treffen, ist bestens vernetzt. Hat seine Finger in fast allen Verbänden und kennt Gott und die Welt. Er ist nicht unbedingt ein Sympathieträger, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Der Chef zögerte, bevor er weiter sprach. „Er hat keine Geschichte“, sagte er noch, dann nickte er ihm noch einmal zu und Alexander schloss die Tür.

© Lop Strasoldo

Lop Strasoldo, Foto: © privat

Lop Strasoldo wurde 1988 in Bonn geboren und studierte in Bonn und Wien Geschichte. Er veröffentlichte in verschiedenen Anthologien und Zeitschriften, zuletzt 2023 in Gläsern und Glänzen. Eine Anthologie der Gläsernen Texte (edition lex liszt, 2023). Seit über 5 Jahren betreut er den Blog Fadenbücher, wo er regelmäßig Rezensionen veröffentlicht

 

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