... aus dem LHW Textforum 2024

Steffi Hensel Dunkelsommer   (Ausschnitt)

zum Inhalt: Die 15-jährige Sascha verbringt den Sommer 1992 bei der ihr kaum bekannten Großmutter. In der einsamen mecklenburgischen Landschaft umkreisen die beiden sich vorsichtig. Im täglichen Miteinander bauen die beiden Vertrauen zueinander auf, bis ein verdrängtes Familiengeheimnis und ein Unfall in der Torflandschaft dieses auf eine harte Probe stellen.
Der folgende Textausschnitt beschreibt die Ankunft der Enkelin bei der Großmutter.

 

Ein blauer Balken Himmel, eine Wand aus Weizen und jede Menge Staub, der auf der trockenen Landstraße aufwirbelte bei jedem Schritt. Meine Füße schwitzten, rutschten in den schweren Militärstiefeln hin und her. Ich spürte, wie sich Blasen formten. Zudem schepperten die kleinen Schellen, die ich an die Schnürsenkel geknotet hatte. Wie mich das Geräusch nervte. Wie ich mich nervte. Alles nervte. Meine Augen hatten sich satt gesehen an den immer gleichen Weizenfeldern. Wo waren die Wälder und Tümpel, die ich im Zug gesehen hatte? Meine Zunge klebte am Gaumen. Acht, neun, zehn. Ich zählte in Gedanken, wie viele Schritte ich brauchte, bis ich wieder in den Schatten eines Alleebaums eintauchte. Sind 18 Kilometer wirklich so weit? Warum ist der Rucksack so schwer? Wieso habe ich kein Wasser mitgenommen? Nein, jetzt nicht jammern. Achtundzwanzig, neunundzwanzig … Da gab das kleine Lederdreieck nach, an dem die Riemen fixiert waren. Der ganze Rucksack krachte zu Boden. Alles in mir schrie. Ich blieb stumm. Vom Feld das Brummen der Insekten. Mein Atem. Sonst Stille. Meine Hände, zu Fäusten geballt, hielten die abgerissenen Riemen immer noch fest. Mein Blick klebte auf dem schmalen Schatten, den mein Körper auf den Boden vor mir warf.

Ein Wimmern, erst leise, dann laut. Seit Stunden keine Menschenseele, nicht mal eine Kuh. Ausgerechnet jetzt, wo ich Rotz und Wasser heulte, hupte es. Das Auto kam neben mir zum Stehen. Der Fahrer ließ seinen Arm aus dem offenen Fenster baumeln. Ich hob meinen Blick nicht, starrte nur den Arm an. Er war gebräunt und stark behaart. Die Lässigkeit, mit der er baumelte, kotzte mich an. Noch bevor ein Blick oder Wort mich treffen konnte, schrie ich und trat mit meinem rechten Stiefel gegen die Autotür. Sofort verschwand der Arm im Wagen. Der Motor heulte auf. Das Auto raste davon.

Ich zerrte mich und meinen Rucksack von der Straße in den Schatten. Es tat gut, den kühlen Stein unter meinem Hintern zu spüren. Stein? Wo war ich gelandet? Ich sah mich um und erkannte, dass ich auf einem Mahnmal für gefallene Rotarmisten saß. Es lag versteckt hinter einer Reihe von Alleebäumen, deshalb war es mir nicht aufgefallen und wie eine Fata Morgana aufgetaucht. Vögel begannen zu schirpen. Ich sah sie nicht, hörte sie nur. Sie mussten in dem schattigen Baum da vorne sitzen. Es war, als wollten sie meinen Blick weg von den Stelen des Mahnmals lenken. Ich drehte mich zu dem Baum. Mein Kreislauf begann verrückt zu spielen, ein stechender Kopfschmerz gesellte sich dazu. Ich wartete, doch die Welt hörte nicht auf sich zu drehen. Ich legte mich auf den Rücken, starrte in den Himmel. Die Vögel schossen blitzartig aus dem Baum, stoben in alle Richtungen davon. Was haben die denn?, fragte ich mich, doch meine Gedanken waren langsam, wie in Zeitlupe, zäh. Tiefer Schlaf überrollte mich.

Mein Herz pochte im Hals. Ich hatte die Augen noch geschlossen, spürte aber, dass mich jemand anstarrte. Vorsichtig öffnete ich das linke Auge. Über mir in der Luft schwebte ein Greifvogel. Ich öffnete das zweite Auge und schaute mir das Tier genauer an. Es kreiste genau über mir. Die Flügel waren breit gespannt, das Gefieder auffallend bunt, der Schwanz gegabelt. Ich überlegte, meinen Skizzenblock aus dem Rucksack zu holen, hatte aber Angst den Moment zu zerstören und das Tier zu vertreiben. Also blieb ich einfach liegen, betrachtete die Details, die ich später auf das Papier bringen wollte.

„Ein Rotmilan.“ Ich richtete mich auf. Sie lehnte am Straßenrand an einem Baum. Die Sonne war beachtlich gewandert und blitzte tief hinter den Baumkronen hervor. Ich spürte das Spiel aus Licht und Schatten auf meinem Gesicht, blinzelte. Sie trug ein rotes Kleid mit einem auffälligen Druck aus riesigen Mohnblüten. Um den Kopf hatte sie ein weißes Tuch gewickelt. Nicht so, wie ich es von Bauersfrauen kannte, unter dem Kinn verknotet. Nein, sie hatte das Tuch vorne an der Stirn verknotet. Das sah verwegen aus. Neben ihr stand ein kleiner Bollerwagen aus Holz. Aus einer gelben Thermoskanne füllt sie ein dampfendes Getränk in einen Becher. Sie hielt ihn mir hin. Schon stand ich neben ihr. Die Tasse in meiner Hand, den Geruch von Pfefferminze in meiner Nase, den warmen Tee in meinem Mund, meiner Kehle, meinem Magen.

„Wird auch Zeit, dass du mich mal besuchst.“ Sie legte meinen Rucksack mit großer Selbstverständlichkeit in den Wagen. Ich verspürte große Lust mich dort hineinzulegen, meinen Kopf in den Rucksack wie in ein Kissen zu kuscheln und von ihr geschoben zu werden. Wenn ich mich zusammendrehte wie eine Katze im Schlaf, dann würde ich in den Bollerwagen passen. Aber da war sie schon losgegangen. Die Räder quietschten. Ich lief ihr hinterher. Die Schellen an meinen Stiefeln bimmelten. Ich riss sie ab.

Ich stolperte gegen den Bollerwagen, so abrupt hielt sie an. Wir standen auf einer Anhöhe. Vor uns fiel die Landschaft sanft ab. Es eröffnete sich der Blick auf ein Dorf. Eine Handvoll Häuser, die in großem Abstand voneinander in der Mulde versprenkelt waren. Reetdächer, große Gärten. Ein paar Schafe, Pferde, weiße Punkte, wahrscheinlich Gänse oder Hühner. Alles wirkte wie hingeworfen und doch harmonisch. Hinter dem Dorf setzten sich links die Landstraße und gelben Felder fort. Rechter Hand wucherte dichter Wald. Über allem wechselt der Himmel seine Farbe von leuchtendem Orange zu feurigem Pink. Ich spürte ihren Blick auf mir. „Wie deine Haare“, sagte sie und verschwand seitlich von der Straße in einer Wand aus dichten Brombeerbüschen. Ich griff nach meinen Haaren, wie um mich zu versichern, dass sie wirklich auf meinem Kopf waren. Ich schaute mir die pinkfarbene Strähne an. Sie hatte recht, meine Haare hatten die Farbe des Sonnenuntergangs. Ich folgte ihr. Kühler Schatten verschluckte mich.

Wir befanden uns auf einem Trampelpfad, gerade breit genug, dass der Bollerwagen durchpasste. Er hüpfte vor mir über Wurzeln, mein Rucksack donnerte von links nach rechts. Aua. Die Dornen der Büsche rissen meine nackten Arme auf. Ich verschränkte sie vor meiner Brust, um weniger Angriffsfläche zu bieten. So ging es besser. Meiner Großmutter schien all das nichts auszumachen. Sie bewegte sich mit einer Leichtigkeit und Finesse, die mich daran zweifeln ließ, dass sie die alte Frau und ich der junge Hüpfer war. Die Brombeeren gingen allmählich in mannshohes Röhricht und Schilf über. Die Räder des Wagens schnitten tief in weichen Sand, meine Stiefel versanken. Jeder Schritt eine Qual.

„Voller Blutegel“ kommentierte sie, als wir ein schwarzes Rinnsal überquerten. Dahinter versperrte ein hoher Zaun Sicht und Weg. Sie drehte sich um, schaute mich an und drückte mit dem Rücken gegen das Tor, das sich knarzend öffnete. „Willkommen“, sagte sie und hielt die Tür mit ihrem Rücken für mich geöffnet. Ich ging durch das Tor, das sie nach mir zuschnappen ließ und von innen verriegelte. Ich musste sie komisch oder fragend angeschaut haben, denn sie schob wie zur Erklärung nach: „Wegen der Wildschweine.“

© Steffi Hensel

Steffi Hensel, Foto: © Jean-Paul Pastor Guzmán

Steffi Hensel, geboren 1979 in Ost-Berlin, aufgewachsen in Brandenburg. Studium der Theaterwissenschaften in Berlin und Liverpool. Seitdem freie Tätigkeit als Theatermacherin und Autorin für Bühne und Film. Einladungen und Residenzen u. a. in den USA, Japan, UK, Russland und Korea. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter den „Interstip Award“ in der Sparte Darstellende Kunst vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg 2016 und den Tankred Dorst Drehbuchpreis 2017.
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