Es ist 19 Uhr an einem Mittwochabend im Spätsommer und ich stehe vor dem Favoritner Laaerbergbad. Meinen literarischen Gewohnheiten entsprechend, überlege ich mir schon, worum sich mein Text drehen wird, noch ehe ich das, wovon er handeln soll, überhaupt erlebt habe. Ein eher fruchtloses Unterfangen.
Ich warte, während die Sonne schon im Begriff ist, unterzugehen, auf den Freund eines Freundes, zufällig erwähnt bei einem Gespräch über außergewöhnliche Hobbies und für so interessant befunden, dass ich unbedingt über sein Steckenpferd schreiben wollte. Denn es ist eine geradezu poetisch widersprüchliche Tätigkeit, der er nachgeht, und die ich großzügigerweise heute erproben darf: Unterwasserrugby.
Es ist nämlich so: Mein ganzes Leben lang träume ich davon, eine Kolumne über Bewegung zu schreiben. Ich bin (oft sagt man mir, für einen sogenannten „Geistesmenschen“ eher untypischerweise) nicht nur verrückt nach Sport, sondern nach der Beschäftigung mit den Möglichkeiten des Körpers per se. Obwohl ich hauptsächlich Rudererin bin und im vergangenen Jahr ein wenig mit dem Triathlon geflirtet habe, ist meine Praxis stets eine äußerst breite gewesen: Ich habe Unterricht bei einem Cirque du Soleil-Artist genommen und Boxkurse absolviert. Kraftsport liebe ich genauso wie Bergsteigen oder das calisthenics-artige Movement-Training à la Ido Portal. Ich interessiere mich für Ballspiele und erkundige mich quasi wöchentlich nach neuen Studien aus der Sportwissenschaft.
Ich bin gleichsam besessen – und weil ich der Überzeugung bin, dass in einem Zeitalter vernachlässigter Körperlichkeit das Nachdenken über Bewegung eine der ergiebigsten Quellen praktisch-philosopher Betrachtung ist, wird an diesem Augustabend die Kolumne geboren, von der ich schon so lange träume. Es ist eine Serie, die bis in die Tiefen dessen führen soll, was wir überhaupt als Sport betrachten – und weil ich in meinem Denken stets von den Randbezirken der jeweiligen Begriffe ausgehe, sind es ungewöhnliche Sportarten, die ich untersuchen und dabei auch selbst ausprobieren werde.
Der Freund meines Freundes, Thomas, erscheint pünktlich und lässt mich in das für den regulären Betrieb schon geschlossene Bad, in dem es – witzigerweise – zu Badeschluss stets ein Lied des Freundes spielt, der uns miteinander vernetzt hat. Mein Mentor für das heutige Training ist nicht nur langjähriger Nationalspieler und mittlerweile Mitgründer diverser Organisationen, die diesen Sport in Österreich tragen, sondern auch Quantenphysiker. Weil er selbst mittrainieren wird, drückt er mir zunächst die Leihausrüstung in die Hand und übergibt mich der kompetenten Obhut seiner Freundin Jaqui, die mir die Basics des Unterwasserrugby erklären wird.
Während es über Favoriten schon dunkelt, treffen immer mehr der einige Dutzenden Mitglieder ein, die das Herzstück des Clubs bilden. Eine der Lehren, die man schnell zieht, wenn man sich für Bewegung als generelles Phänomen interessiert, ist, dass es etwas wie eine „sportliche Figur“ per se nicht gibt. Nischentätigkeiten fördern Nischenadaptionen, und auch wenn die Spieler:innen athletisch aussehen, ist es weder der Körperbau von Schwimmer:innen noch ganz von Rugbyspieler:innen, auf dem man hier trifft.
Auch in Klagenfurt und Graz gebe es übrigens Vereine, wie mir Thomas erzählt, aber das Epizentrum des österreichischen Unterwasserrugby sei nach wie vor Wien. Kein Wunder, braucht es doch eine gewisse Infrastruktur. Das Laabergbad ist eines der wenigen städtischen Schwimmbäder, deren Becken tief genug sind, um überhaupt trainieren zu können; denn ein vier- oder fünf Meter tiefer Pool wird meist nur gebaut, wenn auch eine Turmsprunganlage vorhanden ist.
Weil ich nicht den Hauch einer Ahnung habe, wie die mir übergebenen Elemente der Ausrüstung übereinander geschichtet werden müssen, hilft mir meine Tutorin Jaqui, Schnorchel, Schutzkappe und Brille anzulegen. Neben mir schwimmt eine Frau, die mir als Pionierin des österreichischen Unterwasserrugby vorgestellt wird, und den Sport schon seit 46 Jahren praktiziert.
Wenn das Konzept meiner Kolumne ist, den meisten Menschen eher unbekannte Sportarten auszutesten, so sind die meisten davon folglich recht neue Phänomene. Nicht so Unterwasserrugby: Schon seit den 1960er-Jahren wurde es von Deutschland aus in die Welt getragen. In den 1980ern gab es schließlich genügend Teams, um die erste Weltmeisterschaft auszutragen. Die Regeln ähneln denen von Rugby aufgrund des stark differierenden Mediums der Bewegung natürlich nur periphär: Teams aus je sechs Spieler:innen (wobei sechs Auswechselspieler:innen am Beckenrand warten) versuchen, einen langsam sinkenden Ball in einen Korb zu verfrachten, der in mindestens dreieinhalb Metern Tiefe steht. Dies wird nicht nur durch die gegnerischen Abwehrspieler:innen erschwert, sondern vor allem durch einen Torwart, der rücklings mit den Flossen schlagend auf eben diesem Korb liegt. Weil man auf diese Weise schwerlich die ganzen 30 Minuten eines Matches durchstehen kann, werden unablässig Spieler:innen gewechselt, die am Beckenrand auf diesen Tausch warten.
Die Aufwärmübungen, in die mich Thomas Freundin Jaqui – selbst übrigens ehemalige Spielerin in mehreren Nationalteams, und nur wegen ihrer Schwangerschaft zum Pausieren gezwungen – einweist, beinhalten das Warmschwimmen im zugegebenermaßen bereits kalten Wasser. Die präferierte Beinbewegung beim Unterwasserrugby ist der Monoschlag, wie man ihn etwa beim Schwimmen nach dem Startsprung ausführt, weil er die beste Kraftübertragung unter Wasser erlaubt – eine wesentlich leichtere Aufgabe für mich, als die Schnorchelatmung, die ich en passant zu üben versuche. Man muss durch ein walartiges-Manöver das Wasser aus dem Rohr blasen, was dadurch erschwert wird, dass beim Unterwasserrugby Schnorchel ohne Abblasventil verwendet werden.
Während ich noch buchstäblich das Atmen zu erlernen versuche, wird das reguläre Training angepfiffen. Neben mir in der Tiefe spielt sich ein ungeheuerliches Schauspiel ab, das zwischen bedrohlich und beeindruckend changiert. Zwei Teams, die sich zu Trainingszwecken durch unterschiedliche Kappenfarben unterscheiden, halten sich für einen Augenblick am Beckenrand fest, ehe sie auf ein Signal des Trainers hin in die Tiefe hechten, um als erste am salzwassergefüllten Ball zu sein.
Dass sich Schwimmer:innen, ja sogar Apnoe-Taucher:innen, trotz aller Gewandtheit doch nur in zwei Dimensionen bewegen, wird einem erst klar, wenn man Menschen mit – und aus dem Mund einer leidenschaftlichen Anglerin will das etwas heißen – fischartiger Wendigkeit und auf dem Kopf stehend einen Ball verteidigen sieht, während sie von hinten ein Kontrahent in den Schwitzkasten nimmt. Bewegungen, die am Gängelband der Gravitation außerhalb von Superheldenfilmen kaum möglich sind, werden ganz selbstverständlich ins Spiel eingebaut. Jemand befördert den Ball etwa in einer Art Brückenbewegung nach hinten, während ein anderer ihn mit einem senkrechten Manöver verteidigt. Die Sehgewohnheiten werden beim Unterwasserrugby unmittelbar herausgefordert, weil es das jahrzehntelang von Fuß- oder Handball einzementierte Credo, dass man um einen Gegner nur nach rechts oder links herumkommt, unterminiert.
Solche Paradigmenwechsel illustrieren einen der Aspekte, die ich an Bewegung am faszinierendsten finde – nämlich, dass der Körper, wenn man ihn mit einem Problem konfrontiert, stets die effizienteste Art findet, dieses zu lösen, ohne dass man es auf rationalem Wege einleiten müsste.
Ich hingegen bekomme von Jaqui mittlerweile probeweise den Ball zugespielt, und dilettiere meisterlich. Unter Wasser befindet man sich in einer Art Paralleluniversum, in der die Trägheit und die veränderten Kurven, die ein Objekt beim Anstoßen beschreibt, das einfache Werfen zu einer für das Hirn unberechenbaren Aufgabe macht. Meist bleibt der Ball unmotiviert vor meinem eigenen Gesicht hängen oder reißt mich, im Gegenteil, selbst ein Stück in die Tiefe beim Fangen.
Nach einer stolzen Bilanz von etwa einem einzigen sauber zugepassten Ball, schickt mich Jaqui bereits ins Geschehen. Als eine Art sehr ungeschickte Auswechselspielerin soll ich (blaue Haube) einen „Tackle versuchen“, wie sie es ausdrückt, ein Manöver, dessen Gelingen mir etwa so wahrscheinlich scheint, wie an Ort und Stelle einen doppelten Lutz zu springen. Nahe am Boden des Beckens haben sich Cluster aus Menschen gebildet – für einen Laien wie Knäuel aus Extremitäten aussehende Strukturen, die auf einen Spieler eindringen, der in minutenlanger Stasis den Ball zu behaupten scheint. Ich winde mich einmal ganz nach unten, berühre den Ball mit den Fingerspitzen, fühle Flossen neben meinem Gesicht – und tauche aus Angst sofort wieder auf.
Zu den faszinierendsten Elementen des Unterwasserrugby gehört für Thomas neben der auch von mir bemerkten Dreidimensionalität des Spiels, dass es eine zeitliche Komponente besitzt. Denn habe man den Überblick über das Spielgeschehen und wisse wann die Mitspieler:innen abgetaucht seien, könne man auch ahnen, wann sie an die Oberfläche müssen. Das bringe viel Kreativität in den Spielaufbau.
Dass noch nie jemand beim Training des Teams ohnmächtig geworden sei, kommt mir angesichts der wrestlingartigen Headlocks zwar merkwürdig vor – Thomas aber versichert mir, dass ein normaler Tauchgang beim Unterwasserrugby nicht länger als 15 bis 20 Sekunden dauert. Indessen könnte ich schwören, noch nie so lange 15 Sekunden erlebt zu haben, während ich selbst wieder und wieder Versuche starte, mich am Geschehen zu beteiligen. Das mag auch daran liegen, dass ich einige dieser Sekunden mit Druckausgleich verschwenden muss, während die geübten Spieler:innen einen solchen handfrei und im Schwimmen erledigen können.
Während für eine Laiin wie mich das schwunghafte Aufeinandertreffen der Teams, der Kampf darum, den rücklings liegenden Torwart vom Korb zu ziehen und die wie ein Fischschwarm ins Zentrum schießenden Spieler:innen etwas ungeheuer Turbulentes besitzen, ist die Diskrepanz zur Zuschauerperspektive einzigartig. Denn wenn ich notgedrungen an die Oberfläche muss, und mich am Beckenrand kurz ausruhe, ist es totenstill. Es hat etwas äußerst Stimmungsvolles, wie sich der Tumult unter Wasser ganz und gar stumm abspielt. Auch wenn es bei großen Turnieren durch Kameras möglich ist, die Matches zu verfolgen, bleibt die Beobachtung eben doch nur mittelbar.
Unterwasserrugby habe auch etwas von einer Meditation, erklärt mir Thomas, weil der Aspekt der Atmung dem Wechsel zwischen diesen beiden Welten den Takt gibt, und man sich aktiv bemühen müsse, den Puls ruhig zu halten, um möglichst lange unten weilen zu können. Unterwasserrugby ist ein Framework für das, was die Movement Community „Bewegungsrätsel“ nennt – anfangs unmöglich scheinende Übungen, die durch physiologische Kreativität gelöst werden müssen.
Ein berühmtes Beispiel ist, sich mit einem auf den Füßen liegenden Besenstiel auf den Boden zu legen und sich auf den Bauch zu drehen, ohne dass der Besen herunterfällt. Das, was man hier „lösen“ nennen kann, unterscheidet sich radikal davon, was etwa das Lösen einer mathematischen Aufgabe auszeichnet.
Unterwasserrugby ist eine Ineinanderschachtelung solcher Bewegungsrätsel. Wo die breite Öffentlichkeit eine exzentrische Verlagerung eines „normalen“ Bewegungsmusters (Rugby an der Luft) sieht, das aus ideosynkratischem Interesse einfach unter Wasser verlegt wird, müssen in Wirklichkeit durch die Veränderungen des Mediums Wasser Lösungen gefunden werden, die an der Oberfläche niemals möglich wären.
Vielleicht ist es das, was ich mir von dieser Kolumne am sehnlichsten wünsche: Verrückte, neue, undenkbare, paradoxe Rätsel – und wenn ich sie schon selbst nicht knacken kann, doch wenigstens anderen dabei zuzuschauen.
Nach mehreren missglückten Versuchen, mit schmerzenden Ohren den Ball zu erreichen, die immer darin enden, dass ich wie ein kaputtes Jojo sofort wieder nach oben schnelle, beschließe ich, dass ich heute nichts mehr reißen werde. Jaqui wirkt fast ein wenig enttäuscht von mir, weil ich schon nach einer knappen Stunde das Handtuch werfe. Doch auf den Rängen treffe ich einen Mann, der schon zum dritten Mal schnuppert, und sich noch immer nicht recht traut, am Spiel teilzunehmen. Vielleicht habe ich mich gar nicht so schlecht geschlagen für jemanden, die sonst Kontaktsportarten meidet. Immerhin habe ich heute über mich gelernt, dass ich ein Mensch bin, der entweder unter Wasser sein, oder gewürgt werden kann – und das ist ja immerhin auch schon eine Erkenntnis.