Als wir in Kiel aus dem Flughafenbus steigen, steht da bereits Gisbert mit einem Schild, auf das unsere Namen gedruckt sind. Günther wartet währenddessen mit dem Auto, um uns zum Hotel zu bringen. Wie wir später erfahren werden, gehören die beiden zum Freundeskreis des Literaturhauses Schleswig-Holstein. Wir werden auch erfahren, dass einer der beiden heute Geburtstag hat und es sich dennoch nicht nehmen lässt, bei der Abwicklung des Festivals zu unterstützen. Dass man gerne Freund:in dieses Literaturhauses sein möchte, ahnen wir spätestens zu diesem Zeitpunkt.
Wir, das sind meine Lektorin Jessica Beer vom Residenz Verlag und ich, die wir gemeinsam vom Literaturhaus Wien nominiert und vom Literaturhaus Schleswig-Holstein eingeladen wurden, am 22. – also traditionsreichen – Europäischen Festival des Debütromans teilzunehmen. Mit meinem ersten Prosabuch oft manchmal nie im Gepäck bin ich eine von zwölf Debütautor:innen, die gemeinsam mit Vertreter:innen ihres Verlags aus verschiedenen Ländern Europas angereist sind.
Neben uns Ösis sind Paarungen aus Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Norwegen, Polen, der Schweiz, Slowenien und Tschechien dabei. Anfangs werden wir einander auch gleichsam als Ländervertreter:innen vorgestellt, was bei den einen reflexartig leichtes Befremden, bei den anderen witzelnde Eurovision-Kommentare hervorruft. Schon bald allerdings werden wir uns von Länderzuweisungen und Namensschildern weitgehend verabschieden.
Es ist eine diverse, aber gerade noch überschaubare Gruppe, in der wir uns zusammenfinden. Von traditionsreichen Verlagen wie De Bezige Bij aus den Niederlanden, über Imprints von großen Konzernen wie Les Avrils aus Frankreich, bis zu frisch gegründeten Kleinverlagen wie dem Telegramme Verlag aus der Schweiz sind die unterschiedlichsten Verlagstypen vertreten. Von den zwölf Autor:innen haben erstaunlich wenige an Literaturinstituten studiert, der Altersdurchschnitt liegt bei etwa 35. Vielfältigste Biographien tun sich im Laufe unserer Gespräche auf. Ein beachtlicher Teil der Schreibenden geht oder ging einmal ganz anderen Professionen nach, von Mode über Architektur bis Veterinärmedizin ist alles dabei.
So vielfältig gestalten sich dann auch Formen und Inhalte der Romane, die wir am ersten Abend gleich in einer öffentlichen Marathonlesung aller zwölf Autor:innen präsentieren. Die Themenfelder erstrecken sich dabei von Kolonialisierung und Sklaverei, Familienkonstellationen und Identitätsfragen, transgenerationalen und berufsbedingten Traumata, zu Kultur-, Sozial-, Ökologie- und Technikkritik. Die in den Büchern bearbeiteten Berufsgruppen sind demnach ebenso breit gestreut: Seefahrer und Künstlerin, Totengräber und Psychologin, Orchideenverkäufer und KFZ-Mechaniker, Supermarktangestellte und Tierärztin. Mein österreichisches Dorf der 1980er und -90er Jahre gesellt sich zum polnischen Dorf der 1970er und zum slowenischen Landleben des 21. Jahrhunderts. Der urbane Raum wird ebenso bespielt wie die hohe See und die Unterwasserwelt.
Auch die ästhetischen Verfahren sind in einem breiten Spektrum vertreten. Neben experimentelleren Formen, wie etwa der Verschränkung von Essay und fiktionaler Prosa oder poetisch Episodenhaftem, findet sich auch eine bewusste Rückkehr zu traditionellen Erzählformen. Unzuverlässige oder fluide Erzählinstanzen gibt es genauso wie allwissende Erzähler:innen und klassische (Anti-)Held:innen. Popkultur trifft auf theoretische Diskurse, historische Dimensionen und kulturelle Konflikte werden bearbeitet. Das Mädchen als Topos kommt ebenso vor wie die ältere Frau in Trauer. Einmal ist der Fernseher Protagonist, einmal eine nicht näher bestimmte, hochtechnisierte Maschine. Und dazwischen immer wieder auch das Schweigen, das Nichtgesagte, Unsagbare. Ethische Fragen, moralische Fragen. Zwischen den Buchdeckeln, aber auch, so wird sich in den folgenden Tagen zeigen, auf der Metaebene, also wie sie sich uns Schreibenden im Arbeitsprozess stellen.
Die nächsten beiden Tage sind internen Präsentationen und Diskussionsrunden gewidmet. Zum einen werden die Bücher im Rahmen von moderierten Panels noch genauer vorgestellt. Autor:innen und Lektor:innen gewähren dezidiert Blicke hinter die Kulissen, beschreiben ihre Herangehensweisen an Textproduktion bzw. -bearbeitung, Such- und Findungsprozesse, die Entstehung der Bücher und Spezifika der Zusammenarbeit, aber auch Aspekte der Rezeption sowie Verlagslandschaften und Märkte in den verschiedenen Ländern bzw. Sprachräumen. Spätestens dieser Programmpunkt fühlt sich bald gar nicht mehr formell an. Es ergeben sich sehr offene Gespräche mit Rückfragen und Querverweisen, an denen die ganze Gruppe nicht nur teil- sondern anteilnimmt. Zuweilen geht es plötzlich um so Existenzielles, dass es manch eine:n zu Tränen rührt. In anderen Momenten wiederum bricht die Gruppe in schallendes Gelächter aus. Die gelöste Stimmung und die besondere Offenheit, die sich hier einstellen, sind vielleicht der Tatsache geschuldet – spekulieren wir –, dass wir uns nicht nur „unter uns“ befinden, sondern dass durch die Internationalität der Veranstaltung gleichzeitig auch eine potenzielle Konkurrenzsituation ausgehebelt wird, wie sie sonst bei Treffen innerhalb einer Branche, zumindest implizit, leider allzu leicht entstehen kann.
Die Arbeitssprache ist Englisch. Es gibt einen Übersetzer, der für alle Fälle als Dolmetscher engagiert ist – er braucht sich in dieser Funktion allerdings nur etwa eine Handvoll mal einzuschalten. Im Vorfeld wurden ausgewählte Passagen der jeweiligen Romane ins Deutsche, Englische und Französische übersetzt. Wir erhalten eine Broschüre, die alle Versionen versammelt. Insgesamt konnten wir mittlerweile also wechselseitig so viele Eindrücke von den Büchern gewinnen, dass die Neugier steigt und steigt, wir uns vollinhaltliche Übersetzungen wünschen und/oder – sofern das unsere Sprachkompetenz erlaubt – freudig Tauschexemplare hin- und herreichen.
Für eine offener gehaltene Diskussionsrunde teilen wir uns schließlich in Autor:innen und Lektor:innen auf. Unserer Gruppe lässt der Moderator vollkommen freie Hand, und auch hier gibt schnell wieder eins das andere. Die zwei Hauptfragen, die sich auftun und die wir spontan reihum aus unseren verschieden gelagerten Perspektiven beleuchten, sind: 1. Wer darf was wie erzählen?, – wodurch sich ohnehin die gesamte Palette von Aneignung bis Autofiktion vor uns aufspannt, und 2. Welche Arten von Öffentlichkeit ergeben sich für Autor:innen, und wie findet man einen guten Umgang damit? Manch eine aus der Lektorinnengruppe wird im Nachhinein fragen, ob wir denn unter uns Autor:innen gar nicht mehr über „Business“ gesprochen haben. Nein, darum ging es insgesamt wenig in diesen Tagen. Es war, zumindest in meiner Wahrnehmung, eine Vernetzungsveranstaltung im besten Sinn – getragen von echtem Interesse und gegenseitiger Wertschätzung.
Nach all den gemeinsamen Spaziergängen vom Hotel zum Literaturhaus und wieder zurück, entlang der Kieler Förde und durch den botanischen Garten, in dem das Literaturhaus so malerisch gelegen ist, den Unterhaltungen zu zweit, in Grüppchen oder der gesamten Gruppe, gibt es immer noch und immer wieder intensive Gespräche. Das bekommt etwa die Band, die für den letzten Abend extra engagiert wurde, zu spüren. Man muss uns förmlich aus den Gesprächen und zur Musik hin zerren. Am Ende ist schließlich für viele eine Umarmung die einzig adäquate Verabschiedung. In den sozialen Medien ist man ohnehin längst verbandelt, Telefonnummern und Visitenkarten werden ausgetauscht und das Organisationsteam nachdrücklich um eine Gesamtkontaktliste gebeten.
Der Taxifahrer, vor dem wir uns am Ende aus der Gruppe lösen, damit er uns zum Bahnhof bringt, kann sich die Frage nicht verkneifen, was denn das für ein Frauentreffen gewesen sei. Tatsächlich war die Veranstaltung überwiegend weiblich bzw. durch FLINTAs [Abkürzung von Frauen, Lesben, Intersexuelle, Nichtbinäre, Transgender, Agender] besetzt – sowohl was das Organisationsteam als auch die Teilnehmer:innen betrifft. Die andere Seite des Doppelpunkts verweist hier konkret auf einen Autor, einen Moderator und einen Übersetzer. Dann gab es da irgendwo aber auch noch Gisbert und Günther und einen gesamten Freundeskreis, der mit für unser Wohl sorgte. So oder so, es waren vier literarisch wie zwischenmenschlich wunderbare Tage beim Europäischen Festival des Debütromans. An dieser Stelle nochmals danke an alle Beteiligten!