Es mag sein, dass sogar manche Literaturinteressierten den Namen dieser Autorin noch nie gehört haben. Wie kommt es, dass eine der „Hauptakteurinnen der österreichischen Literatur, Kunst und Kultur“ fast vollständig vergessen wurde? Diese Frage stellt die Germanistin Karin S. Wozonig zu Beginn ihrer Biografie Betty Paoli. Dichterin und Journalistin.
Geboren am 30. Dezember 1814 in Wien, gestorben am 5. Juni 1894 in Baden, durchmaß Paoli fast das ganze 19. Jahrhundert. Sie war mit Adalbert Stifter und Franz Grillparzer befreundet, sie förderte die jüngere Marie von Ebner-Eschenbach, sie schrieb einen offenen Brief an George Sand und über Annette von Droste-Hülshoff sowie immer wieder über die Notwendigkeit von Frauenbildung und -erwerbstätigkeit. Paoli trat nicht nur als Autorin, sondern auch als Journalistin und Kulturvermittlerin auf: Sie schrieb Rezensionen und Theaterkritiken, beriet und begleitete aufstrebende Künstlerinnen und Künstler, ob vom schreibenden oder darstellenden Fach. Die Kenntnis ihres Lebens, betont Wozonig zu Recht, gewähre einen „tiefen Einblick in die Kultur- und Literaturgeschichte Österreichs“.
Für uns Heutige sind dabei auch die Kontinuitäten und Diskrepanzen in der Funktionsweise des Literaturbetriebs spannend. Zu Paolis Zeiten war Kultur ein Geschäft der Eliten, und wer dazugehörte, hatte es vermutlich leichter als heute, wahrgenommen zu werden. Auch wenn Paolis Lebensbeginn mit Steinen gepflastert war, verkehrte sie, zunächst als Gesellschafterin, dann als Freundin und gefeierte Autorin, in den sogenannten höchsten Kreisen.
Wozonig holt mit ihrer auf umfangreichen Recherchen beruhenden Biografie ein so ereignisreiches wie einflussreiches Frauenleben hinter dem Vorhang hervor, das es wert ist, betrachtet zu werden. „Ein begleitender Werkband ermöglicht, sich auch einen Eindruck von den literarischen und journalistischen Texten Paolis zu verschaffen.“
Shootingstar und Skandale
Teile von Paolis Kindheit und Jugend liegen im Dunkel. Das liegt daran, dass Letztere von Skandalen umwittert war, die vor der damaligen Öffentlichkeit geheim gehalten werden sollten. Paolis rechtlicher Vater, ein Militärarzt, starb früh, ihre Mutter wird als „leichtsinnig“ charakterisiert, was im damaligen Kontext bedeutet, dass sie nicht streng auf die Ehre ihrer Tochter achtete, die folgerichtig auch bald einen Knacks bekam – Stichwort unglückliche Liebe und uneheliches Kind. Betty Glück – wie sie damals noch hieß, denn Paoli war ein Künstlername – zieht auf der Flucht vor einem Skandal nach Kremenez im russischen Wolhynien. 1834 stirbt ihre Mutter, 1837, kurz nach seiner Geburt, ihr einziges Kind, ein Sohn. Paoli wird zeitlebens auf sich alleine gestellt bleiben – und sich zeitlebens für die Mädchenbildung und die Berufsbefähigung von Frauen einsetzen. In ihren Gedichten wird die, so Wozonig, „Feststellung einer fundamentalen Einsamkeit“ zu den wichtigen Themen gehören.
Trotz der Gerüchte, die über Paoli kursierten, verarbeitete sie in ihren Gedichten stets – wenn auch verklausuliert –, Autobiografisches, hält Wozonig fest. Paolis formale Perfektion täusche dabei darüber hinweg, wie weit ihre Gedichte „vom poetischen Mainstream der Zeit entfernt“ gewesen seien. Für Wozonig erweist sich Paoli insofern als modern, als sie das eigene Erleben selbstbewusst in den Mittelpunkt ihrer Gedichte gestellt und sich damit gleichzeitig eine Persona, eine „bewusste Selbstkonstruktion“ geschaffen hat.
Bereits mit achtzehn Jahren betrat Betty Glück die literarische Bühne. Sie hatte ihre frühen Jahre in Ungarn verbracht und widmete dem Abschied aus diesem Land ihr erstes Gedicht, mit dem sie sich „mitten in der literarischen Szene der Habsburgermonarchie“ wiederfand. Noch im selben Monat folgte eine erste Einmischung in die Debatte um die Geschlechterfrage, wie man sie sich forscher und mutiger kaum vorstellen kann. In dem Gedicht „An die Männer unserer Zeit“ ließ die junge Frau diesen ausrichten, dass sie kein Recht hätten, die Fehler der Frauen „zu bekritteln“, solange sie selbst nicht unfehlbar seien. Bereits hier werde Paolis „Pessimismus bezüglich der Lernfähigkeit der Männer“ sichtbar, bemerkt Wozonig. Zeit ihres Lebens sollte Paoli sich bemühen, dem Ruf, eine Kassandra zu sein, gerecht zu werden.
Unabhängigkeit und Lebensfreundschaften
Am Anfang von Paolis literarischem Erwerbsleben stand aber eine Novelle, denn mit diesem Genre war damals Geld zu verdienen. Dabei war es unumgänglich, den Massengeschmack der Zeit zu bedienen. Bis auf wenige Ausnahmen scheinen Paolis Novellen zu Recht vergessen worden zu sein, obwohl manche von ihnen die bürgerliche Doppelmoral und die Erpressbarkeit der Frauen zum Thema machen, wie etwa die in den Werkband übernommene Novelle Anna, in der eine junge Frau unverschuldet in eine dramatische Abwärtsspirale gerät. Das moralische Dilemma und die widersprüchliche Gefühle Annas sind dabei mit beeindruckender Klarheit dargestellt.
Paolis erster Gedichtband erschien 1841 unter dem schlichten Titel Gedichte, der zweite, Nach dem Gewitter, 1843. „Betty Paoli, mit ihrer freimütigen Lyrik ein Shootingstar der literarischen Szene Österreichs, war 1841 bereits fest in ihr verankert.“ Im Laufe der Zeit ebbte ihre Lyrikproduktion ab, es sollte nur noch zwei Bände erscheinen (1850 Neue Gedichte, 1870 Neueste Gedichte). Bis zum Lebensende schrieb sie aber, wie zu ihrer Zeit üblich, zahlreiche Anlassgedichte. Tendenzlyrik blieb ihr stets ein Gräuel. Das ist insofern erwähnenswert, als Paoli mit Mitte dreißig die 1848er-Revolutionen miterlebte, deren Chaos und Gräuel die einst glühende Anhängerin der angestrebten gesellschaftspolitischen Veränderungen als enttäuschte „Habsburgerpatriotin“ zurückließen.
Paoli war eine attraktive Frau. „Der Teint der Mulatin, das sich in Fülle hervordrängende, schwarzlockige Haar, die glühenden Augen geben ihr auch einige Aehnlichkeit mit der Rachel [Rahel Varnhagen] und George Sand. Betty Paoli ist – wie letztere – eine feurige, starke – aber keineswegs excentrische Seele“, beschrieb sie ein Zeitgenosse. Geheiratet hat Paoli trotzdem nie. Das lag wohl nicht nur an ihrem angekratzten Image, sondern auch an ihrem Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Mit vierzig fand sie allerdings Familienanschluss: bei ihrer Freundin Ida Fleischl, Gattin des großbürgerlichen jüdischen, später geadelten Großhandelsgesellschafters Carl Fleischl. „Die beiden Frauen hatten zweifellos eine innige Beziehung“, schreibt Wozonig, „ob platonisch oder nicht, ist aus den Quellen nicht zu erschließen“.
Zweimal protegierte Paolis jüngere aufstrebende Schauspieler, die später zu Stars des Burgtheaters avancierten, vermutete Liebesgeschichte inklusive. Ludwig Gabillon und Josef Lewinsky blieben, auch wenn sie später heirateten, Paoli bis zum Schluss verbunden, Gabillons Tochter Helene wurde zu einer Wahltochter Paolis. Auch zu Ida Fleischls ältestem, früh verstorbenen Sohn Ernst pflegte sie eine enge Beziehung. Ernst von Fleischl-Marxow und seinen Brüdern widmet Wozonig sogar ein eigenes Kapitel. Ihr einundzwanzig Jahre jüngerer Schützling Josef Lewinsky machte sich als Rezitator um Paolis späte Lyrik verdient. (Dabei konnten seine Vorlesungen übrigens bis zu drei Stunden dauern!)
Paoli scheint, obwohl sie durchaus als schwierig, um nicht zu sagen dominant, galt, zu Freundschaften begabt gewesen zu sein. Paoli, Fleischl und Ebner-Eschenbach trafen sich in Paolis späten Jahren regelmäßig zum Tarock, wovon es auch ein legendäres Foto gibt.
Ihren Lebensunterhalt bestritt Paoli in der zweiten Lebenshälfte mit Rezensionen, journalistischen Arbeiten, Reiseberichten und kunsthistorischen Abhandlungen, darauf weist der Untertitel der Biografie, „Dichterin und Journalistin“, dezidiert hin, und diese Karriere ist in der Tat bemerkenswert. Unverblümt und bisweilen erbarmungslos, glasklar argumentierend und bisweilen sarkastisch bringt sie ihre Urteile vor, in Wozonigs Worten: „geistreich, meinungsstark und mieselsüchtig“.
Dass Paoli sich dabei nicht nur Freunde machte, scheint sie in Kauf genommen zu haben. Paolis erster Beitrag für die frisch gegründete Zeitung Die Presse erschien im August 1848. Paoli besprach aber nicht nur Bücher, sondern wurde bei der konservativen Zeitung Der Lloyd zu einer von Wiens führenden, als unbestechlich gefürchteten Theaterkritikerinnen. Dort publizierte sie auch ihre Reise-Memoiretten mit Eindrücken aus Slowenien und Italien. Spätberufen lernte sie Russisch, übersetzte Michail Lermontow und Wladimir Sollogub aus dem Russischen sowie für das Burgtheater Theaterstücke aus dem Französischen und Italienischen.
Kann man Paoli heute noch lesen?
Für das heutige Auge wirkt ihre Lyrik, die einst als leidenschaftlich galt, merkwürdig unzugänglich. Das liegt zum einen daran, dass sie einen poetischen Realismus vertrat und naturalistische Zugänge vehement ablehnte. „Für Paoli war es unumstößlich, dass aktuelle politische Bezüge und Agitation nicht poesiefähig waren. Die transzendente Qualität der Literatur trennt sie von gesellschaftlichen Fragen“, betont Wozonig und definiert Paolis Poetik mit dem Satz: „Poesie ist Ordnung durch Ästhetik.“
Ihre Liebesgedichte strotzen vor „Zähren“, wie die Tränen damals hochsprachlich hießen, und dürstenden Blicken, Stolz, Reue und Opfern. Womöglich, könnte man vermuten, ist es also Paolis unbedingt idealistischer Begriff von Literatur, der ihr Werk in Vergessenheit geraten ließ, ihr hochkulturorientierter, pathetischer Zugang, der mit dem 20. Jahrhundert – bisher nachhaltig – aus der Mode kam. Wozonig spekuliert über die Gründe letztendlich wenig und hält sich auch insgesamt mit Interpretationen zurück, manchmal vielleicht zu sehr. Sie erzählt geruhsam, erwähnt in aller Ausführlichkeit, mit dem anscheinenden Anspruch auf Vollständigkeit, jede Reise, jeden Aufenthalt, jede Begegnung. Das liest sich nicht süffig, wie so manch andere Biografie, hat aber den Vorteil, dass man sich ein eigenes Bild von dieser Ausnahmeerscheinung machen kann.
Sicher wird Wozonigs Pionierarbeit als ein zukünftiges Standardwerk den Ausgangspunkt für die weitere Beschäftigung mit einem frühen Role Model für emanzipierte Frauen bieten, das zigarrerauchend vorzeigte, wie man ohne Versorgerehe ein befriedigendes, wenn nicht gar erffüllendes Leben führen kann. Auch wenn die energetische, selbstständige und kämpferische Paoli nicht immer sympathisch wirkt und einen gewissen Snobismus vor sich herträgt: Sie bleibt eine Vorkämpferin der Gleichberechtigung der Geschlechter und ihr Leben deswegen nachhaltig von Interesse.
In dem klug ausgewählten Werkband kann man sich von beidem überzeugen: von Paolis Aktualität wie von ihrer Historizität. Das Gedicht Die naturalistische Schule beginnt mit den Zeilen: „Zum Spiegel einer Spanne Zeit / Wollt ihr die heil’ge Kunst erniedern? / Nichts als die bare Wirklichkeit / Soll sie euch schildern und zergliedern?“ Dem hält Paoli die Fähigkeit der Kunst, das (Novalis’sche) „Lösungswort“ zu finden entgegen, ihren „Seherblick, / Der Wesenheit vom Scheine trennt“ […] „Sie, der Weg, das Licht, das Leben!“.
In dem mit dem kuriosen Titel Kein Gedicht überschriebenen Gedicht fasst die Feministin avant la lettre ihr Lebensdilemma zusammen: „Mein Unglück lässt sich in zwei Worten fassen: / Ich war ein Weib und kämpfte wie ein Mann!“
Von Paolis Gedichten interessieren heute mehr die politisch motivierten, dezidiert feministischen: eine Ironie der Geschichte. Damit wäre sie nicht die erste Autorin, die sich selbst verkannt hätte. Eines ihrer eindrücklichsten, persönlichsten Gedichte ist nicht nur im Werkband vertreten, sondern wird von Wozonig auch am Ende der Biografie zitiert – und soll, um einen Eindruck von der Treffsicherheit und poetischen Kraft der damals fünfundzwanzigjährigen Dichterin zu vermitteln, auch hier ganz wiedergegeben werden.
„Ich kann, was ich muß! o seltnes Geschick !
Ich will, was ich muß – – o doppeltes Glück.
Mein Herz ist an Stärke dem Felsen gleich,
Mein Herz ist, wie Blumen, sanft und weich.
Mein Wesen gleicht Glocken von strengem Metall:
Schlag kräftig d’ran, gibt es auch kräftigen Schall.
Mein Geist stürmt auf eiligem Wolkenroß hin;
Mein Geist spielt mit Kindern mit kindlichem Sinn.
Ich weiß, was ich will! und weil ich es weiß,
Drum bann’ ich’s zu mir in den magischen Kreis.
Ich weiß, was ich will ! das ist ja die Kraft,
Die sich aus dem Chaos ein Weltall entrafft.
Ich weiß, was ich will! und wenn ich’s erreich’,
Dann gelten der Tod und das Leben mir gleich.“