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Zwischenwelten

Mo. 27.11.2023

Im Rahmen des Jubiläumsjahres der Österreichischen Exilbibliothek wurde der politisch engagierte Autor Vladimir Vertlib eingeladen, einen Beitrag für die Ausstellung „Die Erinnerung wohnt in allen Dingen“ zu gestalten. Ausgehend von einem Album des Autors und Übersetzers Boris Brainin (geb. 1905 in Nikolajew / Österreich-Ungarn | heute Mykolajiw / Ukraine – gest. 1996 in Wien | s. Foto) reflektiert der russisch-jüdische Autor Vertlib, der 1971 nach Israel ausgewandert ist und seit 1981 in Österreich lebt,  über das „Leben in Zwischenwelten“: Er schildert in seinem Beitrag die zerstörerischen Auswirkungen von Krieg und Gewalt.

In Zwischenwelten übersetzen

Wir alle leben in Zwischenwelten. Die einen mehr, andere weniger. Die Welt um uns verändert sich so rasant, dass wir aus der Bahn geworfen werden, noch bevor wir uns an eine neue Umgebung gewöhnt haben. Wenn man eine Exil- und Migrationserfahrung hat wie ich, als knapp Fünfjähriger sein Heimatland verlassen musste und danach mehr als zehn Jahre in mehreren Ländern und Sprachen unterwegs war, gibt es wohl überhaupt keine Bahn, aus der man geworfen worden war, weil man nie eine solche bewusst wahrgenommen hat. Was ich als prägende Unbehaustheit, als Verlust und Bedrohung erleben musste, war für den Schriftsteller und Übersetzer Boris Brainin ein noch viel traumatischeres Lebensthema. Für mich ist sein Schicksal ein ferner Spiegel, einer allerdings, der viel größer ist als alles, was mir mein eigenes Schicksal aufgebürdet hat. 1905 in der Ukraine als Sohn jüdischer Eltern geboren, in Österreich aufgewachsen, 1934 von den Schergen des Ständestaates in die Sowjetunion geflüchtet, 1936 verhaftet, verurteilt, zehn Jahre in Stalins Lagern und weitere zehn Jahre in der Verbannung verbracht, während sein Bruder von den Nazis ermordet wurde, 1957 rehabilitiert, 1992 nach Österreich repatriiert, 1996 in Wien gestorben.

Boris Brainin war ein ukrainischer Jude aus Österreich, der in Russland insgesamt mehr als 1.500 Übersetzungen aus dem Russischen und anderen Sprachen der Sowjetunion in das nach dem Zweiten Weltkrieg verachtete Deutsch übersetzte. In Brainins Zwischenwelt befand sich eine Tür zwischen den Sprachen, die er aufgestoßen hatte. Das Öffnen dieser Tür war seine Lebensaufgabe, die offene Tür seine eigentliche Heimat, das Hindurchgehen eine Grenzüberschreitung der besonderen Art.

Boris Brainin übersetzte Puschkin und Jessenin, Achmatowa und Zwetajewa, Gumiljow, Pasternak, Jewtuschenko und Achmadullina. Das sind große Namen. Er übersetzte aber auch weniger Bekannte wie zum Beispiel den 1963 in Odessa geborenen Autor Igor Klassen. Vor mir liegt ein Album mit eingeklebten Seiten aus den Heimatlichen Weiten, Nummer 1, des Jahres 1986 mit Igor Klassens Gedicht Der letzte Traum des Präsidenten, übersetzt von Boris Brainin:

Es hämmert mir in den Scheitel:
soundso viele sind umgebracht heute!
Begraben, gesprengt, getötet von Schüssen!
Gesteinigt, von Granaten zerrissen!
So viele haben verhungern müssen!
Doch niemanden hat die Schande zerrissen,
vor Scham ist keiner gekreuzigt worden,
und auch vom eigenen schlechten Gewissen
ist heute niemand gestorben!

Vom Blatt blickt mir neben den wenigen Zeilen der Kurzbiografie von Igor Klassen ein hagerer junger Mann mit schwarzem Haar entgegen. In der Sowjetunion hätte man ihn damals wohl als „Menschen mit jüdischem Äußeren“ bezeichnet. Seinem Familiennamen nach könnte er auch deutscher oder deutsch-jüdischer Herkunft sein oder vielleicht ein Ukrainer mit weit zurückliegenden, nicht mehr zuordenbaren Wurzeln. Ich habe nichts über den heute Sechzigjährigen, der nach Beendigung der Polytechnischen Hochschule in seiner Heimatstadt als Ingenieur tätig war, in Erfahrung bringen können, weiß nicht, ob er noch lebt, was er in den letzten Jahrzehnten geschrieben und ob er publiziert hat. Seine Person und sein Werk sind „lost in translation“. Mir bleibt nur der Inhalt und eine verfremdete Form eines Gedichts, die das Original erahnen lässt, ein Über-Setzen in eine Zwischenwelt, die ansonsten unbeschrieben ist, ein exemplarischer Fall zwischen Zeit und Raum.

Ich weiß nicht, worauf sich Igor Klassens Gedicht aus dem Jahre 1986 bezogen hat. Auf den Zweiten Weltkrieg? Die Schoah? Den damaligen, von der Sowjetunion geführten Krieg in Afghanistan? Auf Krieg und Gewalt allgemein? Ist es eine Metapher auf jüdische, russische, auf deutsche, ukrainische oder schlichtweg menschliche Schicksale im 20. Jahrhundert? Wer könnte der erwähnte Präsident sein? Man hat eine große Auswahl.

Auf mich wirkt angesichts von Putins Angriffs- und Vernichtungsfeldzug in der Ukraine dieses fast vierzig Jahre alte Gedicht auf eine beklemmende Weise prophetisch. Odessa ist heute (schon wieder!) eine Stadt im Krieg. Die Parallelen zur Gegenwart schmerzen. Wieder einmal empfinden zu wenige Menschen Scham oder haben ein schlechtes Gewissen. Auf altbewährte Weise erfolgt das Morden massenhaft und systematisch, und mir drängt sich die Frage auf, was Boris Brainin wohl zur Bombardierung seiner Geburtsstadt Mykolajiw (Nikolajew) im Jahre 2022 gesagt hätte. Vielleicht ist es eine Gnade, dass er das nicht mehr erleben musste.


Der hier publizierte Text Vladimir Vertlibs „In Zwischenwelten übersetzen“ ist mit 29 weiteren Ausstellungsbeiträgen noch bis 1. Februar 2024 in der Jubiläumsausstellung „Die Erinnerung wohnt in allen Dingen. 30 Jahre Österreichische Exilbibliothek“ im Literaturhaus Wien zu sehen.

Abgedruckt im Ausstellungskatalog „Die Erinnerung wohnt in allen Dingen. 30 Jahre Österreichische Exilbibliothek“, hg. v. Veronika Zwerger, (Wien 2023), S. 70–73.

Vladimir Vertlib schreibt am 25.10.2023: „Das Massaker der Hamas an israelischen Zivilist:innen am 7. Oktober und der Krieg in Israel/Gaza haben mich sehr erschüttert. Ich lebe nun zwischen zwei Kriegen, die meine Angehörigen, meine Herkunft und Identität unmittelbar betreffen – dem Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten“. Zuletzt veröffentlichte der Autor zwei Essays zum Krieg in Israel/Gaza in der Presse „Vladimir Vertlib über sein Leben zwischen den Kriegen“ sowie den Salzburger Nachrichten „Lösung für den Nahost-Konflikt? Die beste aller Sackgassen“ (beide vom 21. Oktober 2023).

 

Geb. 1966 in Leningrad / UdSSR / St. Petersburg / Russland), lebt in Salzburg und Wien. Schriftsteller, Herausgeber, 1971 Emigration mit der Familie nach Israel, später in die Niederlande, die USA und nach Italien, seit 1981 in Österreich. Studium der Volkswirtschaftslehre. Romane, Erzählungen und Essays im Umkreis der Themen Migration und jüdische Identität.

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