Das Berechnen von Ternärzahlen und deren praktische Nutzung für die Computerentwicklung beherrscht Wissers Ich-Erzähler und Protagonist Erik Montelius perfekt, auch wenn er mit Einsetzen der Erzählung erst langsam wieder seine kognitiven Fähigkeiten und physischen Kräfte zurückerlangt. Montelius wurde nämlich 1991, 30 Jahre bevor die Haupthandlung des Romans einsetzt, aufgrund einer unheilbaren Krebserkankung kryokonserviert – also in flüssigem Stickstoff eingefroren (eine Technik zur Aufbewahrung von Zellen und Gewebe) – und als erster Mensch bislang wieder aufgetaut und zu einem zweiten Leben erweckt.
Inzwischen schreibt man das Jahr 2021 und Montelius sieht sich mit der Corona-Pandemie, ständig an ihren Smartphones hängenden Mitmenschen, denselben Umweltproblemen wie in den 1990er-Jahren (Verbrennungsmotoren, Plastikmüll, Überbevölkerung) sowie einem neuen Ehemann seiner Frau konfrontiert. Letzterer ist zudem Montelius’ ehemaliger Geschäftspartner, wodurch Interessenskonflikte auf mehreren Ebenen vorprogrammiert sind, die auch eine Krimihandlung auslösen: „Alle waren dreißig Jahre älter geworden, nur ich nicht. Ich war ein Gott. Oder zumindest die Inkarnation eines Gottes.“ (S. 66)
Montelius ist nämlich nicht gewillt, die Veränderungen der letzten 30 Jahre unwidersprochen hinzunehmen, sondern ist – ganz in der Tradition des einzigartigen Herr Turin aus Daniel Wissers mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichneten Roman Die Königin der Berge – ein renitenter Patient, der mit seinem Beharren auf Selbstständigkeit und der ständigen Suche nach körperlichen Genüssen (Alkohol und amouröse Abenteuer) Krankenhauspersonal und Familienangehörige in den Wahnsinn treibt: „Ich hatte keine Lust mehr, mich vertrösten zu lassen. Ich hatte keine Lust mehr, ein Patient zu sein, dem man nach Belieben Informationen vorenthalten, das Du-Wort ausschlagen und Bier verweigern konnte.“ (S. 35)
Montelius’ Verhalten ist selten konform und daher immer für Überraschungen gut: So nützt er seinen Jugend-Bonus voll aus und geht eine Beziehung mit Nikki, der 40-jährigen Tochter des zweiten Manns seiner (inzwischen 60-jährigen) Frau ein und zeugt ein Kind mit ihr. Mit Turin’schem Sarkasmus begegnet er dem darauffolgenden väterlichen bzw. ex-geschäftspartnerlichen Wutausbruch genauso wie den technologischen, politischen und gesellschaftlichen Veränderungen: „Musste man denn wirklich sterben und wiederauferstehen, um zu sehen, wie lächerlich das alles war?“ (S. 126)
Über SUVs, Laubbläser und Nordic Walking kann sich Montelius nur wundern; Smartphones – die er in 1980er- und Computerdiktion so liebevoll wie witzig „Donkey Kong“ (nach einer populären Videospielfigur) nennt – sieht er nicht als Errungenschaft, sondern als energie- und aufmerksamkeitsfressende Überwachungsinstrumente der Freiheitsberaubung und für die allgegenwärtige lautstarke Klage über die subjektiven Befindlichkeiten hat er genauso wie für den omnipräsenten Gesundheits- und Konsumwahn nur Verachtung übrig: „Oben ohne gibt es nicht mehr. Trotzdem leben die Menschen freier als in den Achtzigerjahren, sie bemerken es nur nicht und werfen ihre Freiheit weg wie die Pullover, die sie im Dutzend im Internet bestellen.“ (S. 240)
Wisser liefert dank seines Kunstgriffs, die aktuelle Gegenwart aus den Augen eines Epigonen aus dem letzten Jahrhundert als überkommene Zukunftsvision darzustellen, für uns „Einmalgeborene“ eine kritische Bestandsaufnahme unseres Ist-Zustandes. Dank seines trockenen Humors und seinem Faible für absurde Situationen (herrlich: eskaliertes Weihnachtsfest mit Feuerwehreinsatz und kollektivem Weißweinbesäufnis!) und onomatopoetische Sprachspiele (grandios z. B.: „Wählerinnen und WLAN“ (S. 191) oder die Erklärung, was Sushi sind: „Eigentlich Japaner, aber trotzdem ungar.“ (S. 270)) ist diese durchwegs äußerst unterhaltsam zu lesen, nur zuweilen verliert man sich in den unterschiedlichen Zeitebenen (es sind derer vier), die ohne Überleitung oder Absatz ineinander verschränkt sind.
0 1 2 ist ein sehr kluger Roman mit vielen Zwischentönen – neben dem mathematischen Schwerpunkt kommen auch Liebhaber der humanistischen Bildung nicht zu kurz, wenn z. B. Covid mit den Metamorphosen kontextualisiert wird – und hat mit Erik Montelius, der sich kein Blatt vor den Mund nimmt und keinen Kalauer auslässt, einen der interessantesten, witzigsten und sympathischsten Protagonisten dieses Bücherjahres.
Veronika Hofeneder ist freie Literaturwissenschaftlerin und Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik der Universität Wien. Leitung und Durchführung mehrerer wissenschaftlicher Editionsprojekte zu Gina Kaus und Vicki Baum. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur der 1920er- und 1930er-Jahre, Österreichische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Literatur von Frauen, Literatur und Individualpsychologie, Feuilletonforschung, Editionsphilologie. https://www.germ.univie.ac.at/veronika-hofeneder/