„Liebesgeschichte“, zum Beispiel, erzählt die Beziehung der Kellnerin Claudia zu ihrem Vater, einem Ordinarius für Geschichte, vor dem manchmal in den Vordergrund tretenden Hintergrund der Beziehungen von Claudia zu ihrer Mutter und zur Geliebten des Vaters, seiner Assistentin an der Universität. Wally arbeitet dabei mit Rückblicken auf entscheidende Ereignisse in Claudias Biographie und zeigt, wie alle mit allen verbunden sind, oft unfreiwillig und unglücklich, aber eben auch unauflösbar. Als es Claudia am Ende der Erzählung schließlich wagt, den Vater aufzusuchen, um ihn zur Rede zu stellen, ist es zu spät: „Es war zum Heulen. Endlich hatte sie den Mut, nicht als Kind sondern als Frau mit ihm zu sprechen, in eigener Sache und als Anwältin ihrer Mutter; und jetzt konnte er sich das, was sie ihm zu sagen hatte, nicht einmal mehr merken.“ (73)
Die Beziehungen in Wallys Erzählungen sind transgressiv, entstehen und enden zum Teil überraschend. In „Vom Wiegen einer Begierde“ wird aus zwei Frauen just dann ein Paar, als sie entdecken, dass sie vom selben Mann betrogen worden sind. Bei „Im Himmel auf einen Sprung“ küsst ein Priesterseminarist kurz nacheinander Elena und Andreas, zwei Mitglieder der Pfarrjugend, mit denen er auf einer Wallfahrt nach Lourdes ist. In „Die Überwältigung“ beendet ein Ladendetektiv unfreiwillig seine noch junge Beziehung, indem er seine Geliebte des Diebstahls zu überführen sucht. Am spannendsten ist jedoch die Beziehungskonstellation in „Szenen einer Verteidigung“.
Darin geht es um die Liebe einer alten Dame zu einem jüngeren katholischen Priester. Als die Frau erkennt, dass ihre Liebe hoffnungslos ist, bricht sie in ihrer Wohnung zusammen, erleidet eine Prellung knapp über dem Gesäß. Der Enkelsohn findet sie, legt sie aufs Bett. Es kommt zu einem Gespräch, in dem er ihr jene Komplimente macht, die sie vom Priester nicht bekommen hat. Schließlich bittet sie ihn, auf die beim Zusammenbruch erlittene Prellung eine Salbe zu geben: „Der Enkel kniet sich neben das Bett und legt einen erbsengroßen Ballen Salbe auf den dunklen Fleck. Dann – vorsichtig und nicht ohne Überwindung – beginnt er die Salbe einzumassieren. Bei jeder Berührung zittert sie, doch sie wimmert nicht. Seine Finger kreisen den blauen Fleck ein, fahren mit unbeholfener Zärtlichkeit über den Bluterguss, spüren die Unebenheiten ihrer Haut, die großen Poren, die Trägheit des Gewebes. Obwohl fast ohne Druck aufgetragen, hinterlassen seine Berührungen Mulden, die sich nicht glätten wollen.“ (135)
Nicht alle Erzählungen in Absprunghöhen weben ein so vielschichtiges Beziehungsnetz wie „Liebesgeschichte“ und „Szenen einer Verteidigung“. Manchmal wirken Charaktere und Beschreibungen etwas holzschnittartig, weil die Erzählungen zu sehr auf die Schlusspointe hin erzählt sind. Dann unterlaufen Wally bisweilen klischeehafte Beschreibungen, wie zum Beispiel in „Das Etui mit der Goldrandbrille“, wo es um einen verkrachten Studenten und späteren Sales Manager und seine Kurzzeitfreundin aus der steirischen Provinz geht: „Verena. Sie war anders. Weder von der lärmenden Ausweglosigkeit der Mädchen aus dem Karl-Marx-Hof, noch von der steten Empörtheit der Frauen in den innenstadtnahen Straßenbahnen und U-Bahn-Waggons“ (88–89).
Wenn Johannes Wallys Texte allerdings hinter die Mauern und Masken bürgerlicher Existenz zu gelangen suchen, sind sie vorzüglich. In diesen kritischen Milieustudien, die hinter den Fassaden von Anstand, Ansehen und Moral die unausweichlichen Verstrickungen in selbst- und fremdgespannte Beziehungsnetze offen legen, liegt das besondere erzählerische Moment dieses lesenwerten Debüts.