Stifters 200. Geburtstag naht und löst ein allgemeines Zurüsten in Form von Lesungen, Vorträgen, Symposien und Publikationen aus, die einem der „hintergründigsten“ Dichter der Weltliteratur (Thomas Mann) gelten. Diesem Trend folgt TEXT und KRITIK mit einer bunten Mischung aus Beiträgen von Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern sowie zwei Auszügen aus den „Bunten Steinen“.
Sabine Schiffner eröffnet den Band mit einem Essay über „Stifter als Comic“, was den Laien zunächst befremden mag. Tatsächlich wurden Stifters Texte verschiedentlich illustriert, insbesondere „Abdias“, der sich aufgrund seiner immanenten Visualisierungsproblematik vorzüglich zur grafischen Bearbeitung eignet. Dem Choreografen und bildenden Künstler Marc von Aerschot fiel die Aufgabe zu, Stifters Erzählung cartoonhaft umzusetzen. Anhand von Exzerpten, die Sabine Schiffner auswählte, verwandelte sich Stifters Prosa in eine überaus reizvolle Bildgeschichte, deren stilistische Bandbreite vom Fantasy-Comic über „Ivanhoe“ und biblischen Anklängen bis zum strengen Dekor des Jugendstils reicht. Einhorn, Schakal und allerlei Fabelwesen bereichern die symbolträchtige Kulisse und schaffen einen „modernen und adäquaten bildlichen Ausdruck für die Schönheit und den Schrecken der stifterschen Sprache“.
Eine längere Passage aus „Granit“ wird gewissermaßen als Folie zwischen den ersten und zweiten Aufsatz geschoben. Es geht um jene Stelle, wo der Großvater den Enkel in die Topografie seiner engeren Heimat einführt. Damit wird übergeleitet zu Matthias Göritz, der „Vom Lesen in der Landschaft“ berichtet. Er bedient sich in seiner Arbeit der „Bunten Steine“ und legt dar, welche Bedeutung der Welt als Buch, einer bereits von Descartes verwendeten Metapher, in Stifters Poetik zukommt. Göritz hält dafür, dass durch die Ereignisse des Vormärz nicht nur die äußere Ordnung der Gesellschaft, sondern auch die Innenwelt des Dichters erschüttert wurde. Dieser versuchte, die ursprünglichen Verhältnisse in seiner Dichtung über die Macht der Deixis wieder herzustellen. Was seine Figuren zeigen und benennen, stellt den behüteten Rahmen eines literarischen Mikrokosmos her, der den historischen Veränderungen scheinbar den Rücken kehrt. Im Gesichtskreis ersteht mithin die Idylle neu. Bedroht wird dieser Zustand durch Naturereignisse Hagel, Blitz, Donner, Regen und Schnee. In „Bergkristall“ wirkt die Elementargewalt so mächtig auf die Beständigkeit und Ruhe verheißende Landschaft, dass sie sich wieder in Natur auflöst. Schneefall verwischt die Spuren im Gelände und hebt die „Sicherheit des Sichtbaren“ auf.
Dem Aufsatz von Göritz folgt ein weiteres Textbeispiel, diesmal aus „Katzensilber“, als Einleitung zu Roland Kochs „Das kalte Gesetz“, in dem ein Vergleich zwischen Stifters „Der Waldbrunnen“ und Kochs Roman „Das braune Mädchen“ gezogen wird. Das rätselhafte „braune Mädchen“, an dessen Liebe der verbitterte Stephan Heilkun in „Katzensilber“ gesundet, lieferte den Schreibimpetus für den jungen Autor, der seine Geschichte in einem einsamen Haus im Bergischen Land ansiedelt. Die Protagonisten heißen nun Konrad und Fanny und erwarten ihr erstes Kind. Eine latente Krise treibt den Mann von seiner Frau weg. Dabei lernt er das Mädchen Giulia kennen. Sie fungiert als Katalysator, der das Paar wieder zueinander führt. Was Koch an Stifter fasziniert, ist „im Grunde diese furchtbare Neutralität, diese Herzlosigkeit des Erzählers“, mit der Menschen, Empfindungen und Gegenstände gleichwertig beschrieben und aneinandergereiht werden. Daraus ein so genanntes „kaltes Gesetz“ abzuleiten, erscheint in diesem Zusammenhang legitim.
Michael Donhauser wendet sich in seiner „Kritik des reinen Verlusts“ Stifters Syntax zu, die er als Gartenlandschaft erlebt, in der das Glück via Affirmation des Seienden „reinstalliert“ wird. Mit der Allmählichkeit und Absichtslosigkeit des Sagens, das Stifter mit naturwissenschaftlicher Gründlichkeit unternimmt, reicht dieser, so Donhauser, an ein antikes Maß heran, das ihn eher zu einem „Dichter der Renaissance als der Restauration“ macht. Davon mag sein im „Nachsommer“ entwickeltes pädagogisches Ideal künden, das universell und maßlos zugleich auftritt. Seine Konzeption von sittlicher Vollendung entspricht hingegen eher der „edlen Einfalt“ und „stillen Größe“ der Klassik.
Franz-Josef Czernin schlägt in seinem Beitrag „Zu Adalbert Stifters ‚Witiko'“ eine syntaktische Analyse eines nur eingefleischten Stifter-Anhängern zugänglichen Werks vor und hebt den protokollarischen Stil des personalen Erzählers hervor. Dieser befrachtet seine radikalrealistische Deskription mit Details, die aufgelistet und wiederholt werden, ohne je der Versuchung der Metapher zu erliegen. Sinn liegt in den Dingen, die wiederum einsinnig wie die berichteten Geschehnisse zu verstehen sind, wodurch es zu einer Entlastung der Sprache zugunsten der Dinge kommt, wie Czernin treffend schlussfolgert. Das Seelische wird auf diese Weise nicht bezeichnet, sodass die reine, geradezu kindliche Wahrnehmung sich im Erzählten empirisch zu Buche schlägt. Czernin fragt hier zurecht nach dem Ertrag eines solchen poetologischen Verfahrens für den Leser und kommt zu folgendem Resümee: „Es ist der Reiz einer Sprache von manchmal hölzerner Wucht, von kraftvoller Einfachheit, ja Einfältigkeit; und es ist vor allem der Reiz des feierlich-zeremoniellen Austausches von Dingen, Gesten und Worten.“ Wer aber, ließe sich mit Czernin fragen, verfügt über das notwendige Sensorium, um solch apartem Charme zu erliegen?
Norbert Hummelt sucht in einem fiktiven Dialog mit seiner Gattin einen komparatistischen Zugang zum Dichter des Böhmerwaldes und reflektiert „Über die Liebe bei Stifter und Proust“. Wie fundamental sich die beiden Schriftsteller voneinander unterscheiden, zeigt schon der erste Kuss. Während Swann in unverhohlener Erotik Odettes ersten Kuss erobert und damit zugleich von ihr Abschied nimmt, besiegeln Heinrich und Natalies keusche Lippen den späten Bund fürs Leben. Interessant sind bei Hummelts Studie vor allem Seitenblicke auf sein Privatleben, das sich als authentische Trennlinie zwischen Stifters und Prousts Fiktion schiebt. Für den Verfasser der „Recherche“ ist, wie Hummelt ausführt, Liebe ohne Eifersucht nicht denkbar, ja, sie wirkt als deren Motor. Stifters Figuren ist diese Empfindung fremd; für sie gilt das Wort als unauflösliche Verpflichtung. Hummelts Diagnose lautet schließlich: „Schreiben aus Mangel an gelebter Liebe. Proust gelang es, den Mangel zu kultivieren. Stifter empfand ihn als Fluch.“ Gibt es eine Versöhnung der Gegensätze? Ja, heißt es in der Conclusio: „Zusammen in das Haus einziehen, das aus Worten ist.“
Den Sammelband Adalbert Stifter beschließt eine überaus erhellende Synthese der „Stifter-Studien im Wandel der Zeit“. Michael Scheffel untersucht die wechselvolle Rezeptionsgeschichte eines Schriftstellers, dem es ähnlich wie Thomas Bernhard gelang und gelingt, die Leserschaft zu polarisieren. Seine Forschungsarbeit ist umso beeindruckender, wenn man bedenkt, dass die Sekundärliteratur inzwischen auf mehrere Tausend Titel angewachsen ist, wobei bis dato noch keine bibliografische Gesamtdarstellung existiert. Zu Lebzeiten wurde Stifter als Autor der „Studien“ gefeiert, konnte nach ihrem Erscheinen allerdings keinen Anschluss mehr an den Realismus finden. Sein Spätwerk wurde mit generellem Unverständnis aufgenommen, sodass Stifter mit dem Etikett Biedermeierdichter verstarb. Von seinem Ableben bis zur Wende zum 20. Jahrhundert geriet er fast in Vergessenheit. Eine Notiz bei Nietzsche, der sich lobend über ihn äußerte, brachte ihn wieder ins Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit, sodass man durchaus von einer Stifter-Renaissance sprechen kann, die um etwa 1900 einsetzte. Erste Dissertationen entstanden, und plötzlich erkannte man in „Witiko“ Stifters Genie. Bahr, Kafka und Rilke entdeckten ihn für sich und trugen zu seiner Popularität bei. 1904 legte der Prager Alois Raimund Hein eine umfangreiche Biografie vor, die noch heute richtungweisend ist. Während des Dritten Reichs wurde Stifter mit dem Stempel „völkischer Dichter“ versehen, womit er zur approbierten Pflichtlektüre wurde. Mit der Gründung des „Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich“ 1950 wurde ein Meilenstein für die Erforschung des Stifter’schen Opus gesetzt. In Fachkreisen begann man damit, vermehrt weniger bekannte Schriften des Dichters zu rezipieren. Zudem wurde seinem Wirken als Denkmalpfleger, Beamter und Maler Aufmerksamkeit geschenkt. Auch in München wurde ein Forschungsarchiv eingerichtet, das 1978 eine zweite historisch-kritische Gesamtausgabe erstellte. Wer Stifter sagt, darf natürlich Thomas Mann, Claudio Magris und Thomas Bernhard nicht vergessen. Ihre Kommentare und Zwischenrufe gehören zum Kanon der kritischen Literatur über den nunmehr zum oberösterreichischen Dichterfürsten aufgestiegenen Meister der Prosa.
TEXT und KRITIK würdigt das Phänomen Stifter mit dieser Aufsatzsammlung, die das breite Spektrum einschlägiger Arbeiten um einige originelle Exegesen bereichert, die sowohl vom Fachmann als auch vom interessierten Laien mit Gewinn studiert werden können.
Walter Wagner
28. Oktober 2003
Originalbeitrag