Dass die erste Absichtserklärung eingelöst wird, zeigt schon das – sehr schön gestaltete – Druckbild: zwischen halb- bis ganzseitigen Ausschnitten aus Stifters Werk, flicht der Autor seine eigenen Sätze ein, etwa im Verhältnis zwei zu eins. Mit der zweiten Ankündigung hat Holzingers Buch hingegen absolut nichts zu tun. Die Schreibweise der werkimmanenten Interpretation scheint dem Autor ebenso fremd wie ihr Inhalt. Zu Beginn des sieben Seiten langen Schlusskapitels wird ihm das auch selbst bewußt: „Bisher wurde Stifters Werk in diesem Buch in erster Linie vorgestellt und nur am Rande interpretiert“ (S. 231), heißt es da, und fundiertere Aussagen bleiben auch hier weitgehend aus.
Adalbert Stifter. Seine Welt lässt den Leser etwas ratlos zurück. Das Buch hebt mit dem Gestus des Jahrmarktsausrufers an: „Hereinspaziert! Nur hereinspaziert! Hier sehen Sie, was Sie noch nie gesehen haben! Eine Welt, aus der das Böse verbannt scheint.“ Das lässt einerseits Kulinarisches erwarten und trifft andererseits schon scharf schräg an Stifter vorbei. Was folgt, sind in ordentlich chronologischer Manier eher uninspirierte Inhaltsangaben mit zahllosen, langen bis überlangen Zitaten. Das ist ermüdend zu lesen und sagt nichts über den Inhalt Hinausgehendes aus. Und selbst der wird durch die Konzentration auf das Faktische der Handlung oft verfehlt, denn gerade Stifter bekommt man an der Text-Oberfläche schwer zu fassen.
Besonders daneben gerät so etwa die Inhaltsangabe zu „Abdias“, die von der Figur und ihren Motivationen nichts verrät. Bei Ruth Klüger wäre nachzulesen gewesen, was die Erzählung ausmacht, die Schilderung der äußeren Handlung ist dafür eindeutig zu wenig. Radikal verfehlt ist auch die Darstellung zu „Turmalin“ aus der Sammlung „Bunte Steine“. Das eigentliche Thema der Erzählung ist die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen menschlicher (Selbst)Erziehung zum Guten und Wahren und Schönen, und die beantwortet Stifter erschreckend negativ, indem er den feinsinnigen, kunstliebenden Rentherrn in der ersten Krisensituation menschlich völlig versagen lässt. Es sind seine ewigen Rachesätze, mit denen er seine Tochter zerstört, und die zentrale Bedeutung prekärer Eltern-Kind-Beziehungen im Werk Stifters ist spätestens seit Wolfgang Matz‘ Arbeit aus dem Jahr 1995 kein Geheimnis mehr. Das gerät Lutz Holzinger gar nicht in den Blick,. Für ihn ist die Erzählung einfach „schwer entzifferbar“ (S. 95) und wird mit dem Schlusssatz „Ein wahrhaft dunkles Steinchen, das der Autor da fand“ (S. 97) abgetan.
Das ist der Grundeindruck des Buches. Hier hat es sich einer, der vor vielen Jahren über Stifters „Witiko“ dissertiert hat, einfach zu leicht gemacht. Auch wenn die Intention des Buches sein mag, sich an ein interessiertes Laien- und nicht an ein Fachpublikum zu wenden, enthebt das nicht einer gründlichen Beschäftigung mit den Texten. Trockene Inhaltsangaben, die auf den Blick über den Textrand weitgehend verzichten, sind auch mit langen Zitatbeigaben nicht geeignet, Lust auf den Autor zu machen.
Wie das schmale Literaturverzeichnis zeigt, liebt der Autor Sekundärliteratur nicht und hat jüngere Publikationen kaum wahrgenommen. Das müsste nicht das Problem sein, von literaturwissenschaftlichen „Außenseitern“ kommen oft die anregendsten Beiträge, was sich gerade bei Stifter wiederholt gezeigt hat, etwa in Aron R. Bodenheimers Band „Der Waldgänger. Wenn die Melancholie dichtet“ (1992). Doch wenn man sich auf die Aneinanderreihung bloßer Nacherzählungen beschränkt, sollten dabei aktuellere Erkenntnisse nicht vollständig ignoriert werden. In der Inhaltsangabe zum „Hochwald“ etwa beharrt Holzinger auf dem Bild des Vaters „der sich rührend“ um seine Töchter kümmert, obwohl er eine der zentralen Textpassagen, auf die sich neuere Lesarten des nicht unproblematischen Vater-Töchter-Verhältnisses stützen, auf der vorangegangen Seite – zufällig – selbst zitiert hat.
Wenig einladend ist auch die eigenartig dürftige Sprache, die mit einer Häufung von Formulierungen wie „Bemerkenswert ist, dass…“ oder „In dieser Erzählung schildert er …“ oft an einen Schulaufsatz erinnert. Auch die „Einmontierung“ der Zitate in den Text gerät oft reichlich unelegant mit Zwischensätzen wie: „… kommt es zu folgender Szene:“ oder „Am Ende des Abschnitts heißt es:“. Gelegentliche Auflockerungsversuche mit bemüht flotten Wendungen – wie Stifters „Trade Mark“ (S. 30) – fügen sich da nur sehr schwer ein.
„Wie bereits in der Analyse der anderen Werke Stifters angemerkt“, heißt es kühn auf Seite 176. Was mit dieser „Analyse“ gemeint sein könnte, ist etwa der wiederholte Verweis, Stifter sei ein Meister der literarischen Reihung – darüber weiß der „Witiko“-Dissertant von ehedem bescheid. Das Prinzip der „barocken Trinität“ hingegen, das Holzinger als typisch für Stifters Werk sieht, ist in der monokausalen Herleitung von der Gegenreformation doch etwas fragwürdig. Und wenig überzeugend sind auch die wiederholten Versuche, Stifters erzähltechnische Verfahren mit Techniken des Films kurzzuschließen. Hier wäre ein Rückgriff auf literaturwissenschaftliches Rüstzeug sicher ergiebiger gewesen.
Lutz Holzingers Ausgangsüberlegung, dass heute im Zeichen wachsender Bedürfnisse nach Entschleunigung Stifters Werk eigentlich ein ideales Angebot an entspannungssuchende LeserInnen darstellen würde, ist zweifellos richtig. Umso bedauernswerter, dass er sein „Einladungsbuch“ in die Welt Adalbert Stifters so lieblos und uninspiriert zusammengestellt hat. Dass Stifter gerade für linke Intellektuelle, die von der Auflösung der tradierten Wertesysteme nicht weniger verunsichert sind als Stifter von der Revolution 1848, aktuell eine besondere Anziehungskraft besitzt, ist unbestritten.