Möglicherweise auch deshalb, weil Stifters Art zu sehen und zu schreiben dem 1957 in Oberösterreich geborenen Autor vielleicht noch näher steht, als ihm selbst bewusst ist. Etwa was den Rhythmus und den Bogen des Schreibens betrifft. So wie Stifterleser immer wieder von Anlaufschwierigkeiten berichten, die es mit sanftem Nachdruck zu überwinden gilt, bis man sich in der Erzählwelt zurecht findet und das Erzählte einen unerwartet starken Sog entfaltet, hebt auch Ferdermairs Buch eher gemächlich an. Gleich zu Beginn ist von den unsäglichen Titeln die Rede, die Stifter seinen Werken beigab – auch das könnte man auf sein eigenes Buch beziehen. Das Wort bigott hat im allgemeinen Sprachgebrauch einen viel negativeren Beigeschmack, als Federmair in seinem Verwendungszusammenhang zulässt. „Engherzig, fromm, scheinheilig, blindgläubig“, ist im Duden zu lesen, aber Federmair rückt in seinem Verständnis von Bigotterie einen anderen Aspekt in den Mittelpunkt. „Der Bigotte stellt strenge Forderungen in Hinblick auf die Treue zu den Gesetzen und Regeln seiner Ideologie, die Forderungen fallen umso strenger aus, je weniger der Bigotte seiner persönlichen Glaubenskraft vertraut“ (S. 23). Und das meint bei Stifter primär den permanenten Kampf, mit dem er sich selbst zu überzeugen versucht, dass es das sanfte Gesetz und den guten Menschen wirklich gibt. Wie Federmairs Buch beweist, ist das ein haltbarer Ansatz, aber vielleicht kein ganz überzeugender, in jedem Fall kein einladender Begriff.
Aber sobald Federmair als Autor in Fahrt kommt, und mit ihm der Leser, entsteht eine feine, äußerst lebendige und auch unorthodoxe Annäherung an Person und Werk Stifters. Es sind eine Reihe von durchgängigen Fragestellungen, die überzeugen und überraschende, auch überraschend kühne Verbindungen schaffen. Federmair liest Stifters Texte mit dem wachen Auge des Zeitgenossen, der Analogien und Verwandtschaften aufzeigt, die manche Novität unserer Gegenwart recht alt aussehen lassen. Dazu kommt der Heimvorteil des Autors. Er liest und interpretiert Stifter parallel zu seiner oberösterreichischen Kindheitswelt, und die beiden Erfahrungshorizonte weisen trotz des zeitlichen Abstandes eine erstaunlich große Schnittmenge auf. Federmair kennt die Landschaften, die bäuerliche Tradition, die sprachlichen Besonderheiten und die Typen, die in viele Texte Stifters hineinverwoben sind. Konflikte, die bei Stifter die Folie der dargestellten Ideale bilden, Verhaltensweisen bis hinein in die sprachliche Strukur der Dialoge, unterfüttert Federmair mit den Alltagserfahrungen seiner Kindheit, die er zum Teil wie Stifter als Zögling im Stift Kremsmünster verbrachte. Gerade hier sind die Überschneidungen allerdings eher klein: was Stifter als weltoffen und welterobernd erlebte, hat sich 150 Jahre später in schwerfällige Enge und Härte verkehrt.
Federmairs Blick auf Stifter und sein Werk setzt dort an, wo er ihm begegnet – in seiner Heimat ebenso wie in der Geschichte seiner eigenen Lektüreerfahrung, und er entwickelt daraus in nachvollziehbaren Schritten eine Gesamtschau im ständigen Wechsel von Totale und Zoomeffekten. Wo der geschärfte Blick aufs Detail entdeckt, was Stifter „gegen alle Widerstände und Zensuren aus der eigenen Lebensgeschichte in die Erzählung einfließen“ (S. 41) lässt, stellt der Blick ins Weite Zusammenhänge und Kontinuitäten her, die auch in unsere Gegenwart weisen und unter der Hand die Sperspitze der Modernisierer in biedermeierlichem Licht erscheinen lassen.
Ohne den Texten Gewalt anzutun ergeben sich da Verbindungen von den ländlichen Netzwerken der agrarreformerisch engagierten Stifterschen Gutsherren („Brigitta“, „Nachsommer“ – interessant wäre hier einmal eine detaillierte Parallellektüre der ökologischen „Landarbeit“ des Freiherrn von Risach und der raumgreifenden ästhetischen Landschaftsgestaltung Eduards in Goethes „Wahlverwandtschaften“) zur Permakultur des Sepp Holzer. Die Stifterschen Grundherren sind wie viele der Aussteiger und Agrarrebellen unserer Zeit alle Zugereiste und Stadtflüchtlinge. Vom gängigen Mechanismus „Ausgrenzung, üble Nachrede und späte Berühmtheit“ (S. 116) diesen zugereisten Sonderlingen gegenüber erfahren wir bei Stifter nichts. Einem Ortskundigen wie Federmair fällt das als Leerstelle ins Auge, so wie er auch sieht, dass sich heute, wo sich der „Einstieg“ in die Gesellschaft und ihre Arbeitswelt immer schwieriger gestaltet, die Aussteiger tendenziell verlieren.
„Abdias“ wird in Federmairs Lektüre nicht nur zu einem Selbstporträt Stifters sondern auch zu einer Ilustration aus dem Irakkrieg. Aus der Zeremonialität, die rund um Stifters Rosenhuas herrscht, liest Federmair das lange Register der Mühen heraus, die „die beste Welt ihren Akteuren abverlangt“ (S. 163f.), und mag sich diese Attitüde in unserer westichen Welt auch verloren haben -, Federmair findet sie in der Alltagskultur Japans wieder, wo er zur Zeit als Lektor lebt. Von der großen Geste des Sammelns und Systematisierens, die viele Stiftersche Figuren teilen, zieht Federmair eine Verbindungslinie zu Gerhard Roths Technik des Fotojournalismus als Stoffreservoir seiner Romane. Und mindestens so kühn wie die aufgezeigten Verwandtschaften Stifters bis hin zu Yasunari Kawabata oder die Lektüre von „Kalkstein“ als praekafkaesken Text, ist Federmairs Analyse des „Witiko“ als Popliteratur. Das Gemeinsame sieht er u. a. in der Archvierungslust. Die umfängliche und zweifellos korrekte Aufzählung der Feldzeichen im Militärlager bei Stifter steht der Ausführlichkeit des Label-dropings und sonstiger „Konsumgebete“ (S. 282) bei Bret Easton Ellis tatsächlich um nichts nach. Aus Überlegugnen dieser Art entwickelt Federmair auf wenigen Seiten eine Reihe von anregenden Thesen zu Popliteratur, Postmoderne und neuem Biedermeier.
Natürlich gibt es auch einige Punkte, wo man Federmair nicht ganz folgen mag. Wolfgang Matz‘ These von einer möglichen Abtreibung Amalie Stifters als Auslöser von Stifters lebensläglichen Schuldgefühlen und vergeblichen Kinderwünschen mit dem Hinweis wegzuwischen, dass eine „solche Handlung“ für einen „frommen Christen, der die Religion zur Grundlage der Ästhetik, also seines eigenen Tätigkeitsfeldes macht“ (S. 38) kaum vorstellbar wäre, überzeugt nicht ganz. Ökonomische und sonstige Probleme haben zu allen Zeiten sehr viele sehr viel frömmere ChristInnen zu diesem Schritt veranlasst. „Wahrhaft ein biedermeierlicher Ausflug, diese italienische Reise, vergleicht man sie mit Goethes befreiender Gewaltanstrengung“, heißt es über Stifters eher klägliches Abenteuer in Triest. Doch das scheint zu vergessen, welch reiche Dotierung und Absicherung hinter Goethes „befreiender Gewaltanstrengung“ stand und ihr viel Anstrengendes abnahm: Wer seine kühn gesammelten Schätze gleich vor Ort von Trägern in Kutschen verladen und in die Heimat transportieren lassen kann, geht wohl prinzipiell anders an Weltwahrnehmung und Welteroberung heran.
Doch das kann den Eindruck in keiner Weise trüben, dass man nach der Lektüre von Federmairs Gedanken und Analysen zu Stifter und seiner wie unserer Welt, dem Autor in seiner ganzen Abgründigkeit und Zwiespältigkeit vielleicht doch wieder ein kleines Stück näher gerückt ist. Und man legt das Buch mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht ohne den festen Vorsatz aus der Hand, die eine oder andere Erzählung Stifters – der „Nachsommer“ ist übrigens soeben als preiswerter gelber Reclam-Klassiker erschienen – dringend wieder lesen zu müssen. Den Buchumschlag ziert ein weißes Tischtuch mit Häkelspitze – in der rechten Ecke ein schmaler, aber deutlicher Kaffeerand. Federmairs Buch, so könnte man dazu assoziieren, forscht mit subtilen (Sprach)Mitteln und den richtigen Fragen nach den Ursachen und Verursachern dieser Flecken und Ränder in Stifters Weltbild wie in der Rezeptionsgeschichte.