Soma Morgenstern schwebte das klassische Modell einer Lebensbeschreibung vor, in der die Abfolge der persönlichen Erlebnisse kontinuierlich geschildert wird. Doch sperrte sich die eigene Lebenskraft gegen einen solchen Plan, und Morgenstern verstarb über der Abfassung seiner eigenen Biografie. Der Tod stand ihm schon vor Augen, als er sich entschloß, die bereits fertiggestellten Teile so zu gruppieren, daß in ihnen zwei Zentralgestalten seines Lebens gewürdigt werden: Joseph Roth und Alban Berg.
„Joseph Roths Flucht und Ende“ nannte Soma Morgenstern den einen Teil seiner Erinnerungen; „Alban Berg und seine Idole“ den anderen. Es ist dem Zu Klampen-Verlag zu danken, daß er diese beiden Teilstücke der Autobiografie aus dem Nachlaß von Soma Morgenstern, der 1976 in New York verstorben war, in den letzten Jahren ediert und dem Publikum zugänglich gemacht hat. Nun liegt im Berliner Aufbau-Verlag die Taschenbuchausgabe der Alban Berg gewidmeten Memoiren vor. Eine gute Gelegenheit, auf dieses außergewöhnliche Buch hinzuweisen.
Wie schon seine Erinnerungen an Joseph Roth sind die Berg-Memoiren Morgensterns von einer grenzenlosen Subjektivität gekennzeichnet. Kein Wunder, denn, so schreibt Morgenstern über seine Technik des Erinnerns: „Ich mache immer wieder die Erfahrung, daß auf die Erinnerung kein sicherer Verlaß ist, es sei denn: man unterwirft sich dem unkontrollierten Assoziationsprozeß der Gedanken. Die beste Kontrolle des Gedächtnisses: gar keine. Man kann die Erinnerung melken. Man überlasse sie ihrem freien Fluß.“
Gerade in diesem anekdotenreichen Erzählen liegt der ganze, wenn man so will, wienerische Charme der Memoiren. Da sitzt Soma Morgenstern im ehemaligen New Yorker Exil, die neugegründete Republik Österreich hat auch ihn nicht gebeten zurückzukommen, und vergegenwärtigt sich seine Wiener Zeit mit Alban Berg, die knapp ein Jahrzehnt, von 1925 bis zu Bergs bitter-tragischem Tod 1935, reichte.
Der Glanz dieser Autobiografie begründet sich in einer Tugend, die Morgenstern wohl wie kein zweiter seiner Generation gepflegt hat: der Freundschaft. Sie war ihm wichtiger als das eigene künstlerische Werk oder das der anderen. Die wahre Freundschaft zwischen Morgenstern und Berg, die Nähe, die die beiden verband, stellt nicht das Werk des Freundes in den Mittelpunkt, sondern sein Leben und dessen Umfeld. Deshalb ist in diesen Memoiren kaum etwas Ernsthaftes über die herausragende Musik von Berg oder über das immer noch zu entdeckende literarische Werk von Morgenstern zu erfahren. Soma Morgenstern schreibt über den Platz, den Berg in seinen Erinnerungen einnimmt, folgendes: „Nicht nur, weil Alban Berg der weltberühmte Komponist geworden, nicht nur, weil er der Teuerste in meinem an guten Freunden vielgesegneten Leben geworden ist. Daß er der erste von meinen Freunden war, der so plötzlich früh hinweggerafft wurde, das macht ihn persönlich deutlicher und näher als andere noch so lebhaft Erinnerte.“ Zu jenen Freunden, die nicht Eingang in die Lebenserinnerungen von Morgenstern fanden, könnte man Walter Benjamin und Siegfried Kracauer, Robert Musil und Franz Werfel oder Hermann Broch und Ernst Bloch zählen.
Diese Absenzen sind nicht weiter schlimm, weil in den Memoiren von Morgenstern eine Authentizität des Erinnerten herrscht, in der jene Umbruchdekade von 1925 bis 1935 in Form von sozialen Beziehungen plastisch aufersteht. Die Beziehungen von Alban Berg zu Karl Kraus und Theoder W. Adorno, Anton Webern und Arnold Schönberg oder Gustav Mahler und Peter Altenberg spiegeln sich in der Freundschaft, die Soma Morgenstern mit Alban Berg unterhielt und die in dem vorliegenden Band unterhaltsam und eindringlich geschildert wird.