#Sachbuch

Am Ende - das Buch

Uwe Jochum, Gerhard Wagner

// Rezension von Bernhard Fetz

Was ist das Internet – Informationsvermittlungsmaschine für Bibliotheken und Universitäten, virtueller basisdemokratischer Marktplatz oder gar Religionsersatz? Macht uns seine zunehmend kommerzielle Nutzung zu global vernetzten – und damit abhängigen – Cyberkonsumenten oder ist sein anarchistisches Potential so groß, daß jeder das ihm Gemäße bekommt und damit ein Stück Freiheit? Stehen wir vor einer Revolutionierung unseres Textbegriffs, der die Sprache unserer Literatur und die Sprache, in der wir wissenschaftliche Erkenntnisse ausdrücken, vollkommen umwertet?

All dies, wir ahnen es und haben es auch vor der Lektüre des Bandes schon geahnt, trifft ein bißchen zu, nur kann niemand definitiv sagen, was das Internet vor allem ist. Und damit ergibt sich auch schon eine vorläufige Antwort: Alle mit dem neuen Medium verbundenen Hoffnungen scheinen oft so überzogen wie die Ängste. In absehbarer Zeit wird der linear strukturierte Text nicht verschwinden, um an seine Stelle den Hypertext mit seinen Möglichkeiten der Integration von Ton und Bild und einer horizontalen Schichtung verschiedener gleichwertiger Textebenen treten zu lassen. Wohl aber wird sich unsere Wahrnehmung von Texten verändern, je mehr wir diese in fragmentierter, „offener“ Form präsentiert bekommen. Das Computermedium favorisiert „in sich klar, jedoch nicht unbedingt hierarchisch strukturierte und kleinteilige Texte. Aufgrund ihrer Feinkörnigkeit lassen sie sich in ihrer Binnenstruktur leicht verschieben, die Teile können zudem mehrfach genutzt (z. B. in neue Texte kopiert) werden und bieten sich für eine multiple Vernetzung an.“ Tatsächlich kann hier von einem „Wandel des Textbegriffs“ gesprochen werden, ein Prozeß, den Georg Jäger in seinem Beitrag über elektronisches Publizieren auf überzeugende Weise darstellt: Interessant ist die in den Naturwissenschaften inzwischen weitverbreitete Praxis, Forschungsergebnisse nur mehr elektronisch zu publizieren. Das Netz fördert eine „offene Begutachtung“, die vor der endgültigen Aufnahme in den Kanon der publizierten Texte im Vorfeld erfolgen kann. Damit hat ein schlußendlich angenommener Text bereits eine intensive Diskussion hinter sich, während abgelehnte Beiträge aufgrund der geäußerten Kritik umformuliert werden können. Im angelsächsischen Raum sollen 80 Prozent der elektronisch vorgelegten Beiträge „zur Revision an den Autor zurückgehen“, schreibt Georg Jäger. Die Filterfunktion ist keine alleinige Qualität herkömmlicher Publikationsorgane.

Daß in Bibliothekskreisen die digitale Speicherung von bibliographischen Informationen das beherrschende Thema ist, liegt auf der Hand. Dies hat die Recherchemöglichkeiten revolutioniert und die alltägliche Forschungsarbeit enorm erleichtert. Mit erfrischender Nüchternheit holt Klemens Polatschek in seinem Beitrag „Wer fürchtet sich vorm bösen Netz“ die Früchte am digitalen Himmel wieder auf die Erde zurück. Daß alles aufbewahrenswert ist, nur weil es sich platzsparender als Gedrucktes aufbewahren läßt und weil es die Aura des Immateriellen besitzt, ist ein Trugschluß, dem nicht wenige erliegen. Mehr noch als die traditionellen Medien fordert das Internet die Fähigkeit zur Selektion, Bewertung, kritischen Sichtung des Materials heraus. Der Totalitätsanspruch ist aufgrund der beschränkten Resourcen nicht zu verwirklichen, er hätte aber auch eine Nivellierung von Information zur Folge. Immer länger braucht der Internetbenutzer heute schon, um an die für ihn wirklich relevanten Informationen zu kommen. Die Redundanz und Aufgeblähtheit vieler Homepages ist kaum zu überbieten. „Wir sollten begreifen lernen, „daß das meiste Material im Internet kurzlebige Kommunikation und durchaus www ist, wegwerfenswert“ (Klemens Polatschek). Worauf es ankommt, ist nicht nur die Menge der verfügbaren Daten, sondern auch deren „Tiefenstrukturierung“. Über der Euphorie, die, wie Polatschek anmerkt, manchmal soweit führt, aus Lesesälen tendenziell Internet-Cafés zu machen, sollten die Basisaufgaben der Bibliotheken und Archive nicht aus dem Blickfeld geraten.

Die Verbreitung des Internet wird kaum zu einem Demokratisierungsschub führen, einfach deswegen, weil sich ein Großteil der Menschheit die Technologie auch in Zukunft nicht leisten wird können. Die Vorstellung eines antiseptischen, herrschaftsfreien Raumes, in dem Entscheidungen per Mouseklick getroffen werden, entkoppelt den politischen Raum von seinen symbolischen Repräsentationsformen. Das Politische wird zur „privatistische(n) Evaluierung öffentlicher Angelegenheiten“, wie dies vom Politologen Hubertus Buchstein in einem der besten Aufsätze des Bandes formuliert wird. Andererseits besteht die Möglichkeit, via Internet Informationen unzensuriert und online zu verbreiten. Jedoch fehlen bislang jene „Informationsknoten oder Filter“ (S. 123), die eine Vorauswahl und erste Gewichtung der Informationsmenge ermöglichen. Wo alles potentiell verfügbar ist, ist nichts mehr verfügbar. Das Internet ebnet auch hier die Unterschiede zwischen Unwichtigem und Wichtigem ein. Buchstein plädiert für eine „Verfassung des politischen Raums Cyberspace“, um der Vorherrschaft von mächtigen Interessengruppen zu begegnen. Was die Verwirklichung einer solchen transnationalen Charta für den virtuellen Raum anlangt, ist er jedoch pessimistisch.

Für die Herausgeber Uwe Jochum und Gerhard Wagner ist das Internet Religionsersatz; „die Vollendung der Gnosis im Internet“ ist ein Resultat der Erlösungshoffnungen, die im neuen Medium gebunden sind: „Akzeptiert man also, daß der Impuls der Unzufriedenheit mit der Welt und die Weltveränderung als geschichtliche Tat des Menschen die wichtigsten Merkmale einer Gnosis perennis sind“, dann bedeutet dies, daß das Internet „die in Naturwissenschaft und Technik virulente Fortschrittsgläubigkeit der Aufklärung mit der kommunistischen Vision einer Gemeinschaft Freier und Gleicher fusioniert“. Was in der Lebenswirklichkeit nicht realisiert werden konnte, soll nun „im Modus der Virtualität“ real werden“. Daß alltäglich-praktische und soziale Probleme ans Netz delegiert werden, ist eine Beobachtung, die wahrscheinlich jeder in seiner Umgebung machen kann. „Am Ende das Buch“ ist ein Spiegel der derzeitigen Diskussion über das Internet. Bücher über neue Medien scheinen von ihrem Gegenstand stärker infiziert zu werden als andere: Neben informativen, prägnant formulierten Beiträgen findet sich jede Menge Überflüssiges, wie zum Beispiel im umfangreichen einführenden Beitrag von Hans-Dieter Kübler. Wer so aufs Allgemeine zielt, trifft gar nichts mehr. Mit den neuen Medien hat sich eine Textsorte herausgebildet, die Banalitäten mittels einer technokratischen Sprache verbrämt. Das klingt dann über viele Seiten etwa so: „Jedenfalls muß über mögliche, weiterreichende Veränderungen oder gar Obsoleszenzen von Begriffen, funktionalen Gewohnheiten und technischen Potentialen neu nachgedacht werden.“ In der Tat. Wo der Band Botschaften wie diese reproduziert – daß mediale Veränderungen Veränderungen in anderen Bereichen nach sich ziehen – , muß über seine eigene „Obsoleszenz“ nachgedacht werden; wo die Beiträge, oft in Thesenform, die wichtigsten sozialen und semiotischen Aspekte des Internet nüchtern bilanzieren, wie vor allem in den zitierten Beiträgen von Georg Jäger und Hubertus Buchstein, ist die Lektüre gewinnbringend.

Und das Buch? Ist es am Ende? Natürlich nicht, wenn sich auch zunehmend Formen elektronischen Publizierens durchsetzen werden. Aber es ist so, daß im Gegensatz zu früheren medialen Revolutionen das alte Medium nicht vom neuen abgelöst werden wird und das Buch über einen erstaunlich langen Atem verfügt.

Uwe Jochum, Gerhard Wagner (Hrsg.) Am Ende – das Buch. Semiotische und soziale Aspekte des Internet.
Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, 1998.
166 Seiten, broschiert.
ISBN 3-87940-642-1.

Rezension vom 25.06.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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