Allerdings, wer sich für diesen Aspekt interessiert, muß sich seine Informationen mehr zwischen den Zeilen herauslesen. Denn von der Intention her gibt sich die flotte Erfolgsgeschichte eher personenzentriert – der Starkult ist ja schon lange von der Filmwelt in die Wirtschaftsbranche übergeschwappt. Im Mittelpunkt steht die charismatische Unternehmerfigur Jeff Bezos, geboren 1964, der Mann mit den guten Ideen, dem Geschick im Finden der richtigen Leute und im Beschaffen des nötigen Kapitals, von dem wir alle lernen können. Deshalb ist jedem Kapital ein graphisch unübersehbar herausgehobener FAZIT-Teil angehängt, mit Merksätzen, wie Jeff die Probleme anging und löste und was sich daraus an allgemeinen Handlungsanleitungen deduzieren läßt.
Das klingt langweilig, enthält aber doch eine Reihe spannender und durchaus auch lehrreicher Details. Zum Beispiel die Tatsache, daß es Bezos eigentlich nie um einen Online-Buchhandel ging. Es war einfach so, daß er als Informatiker und Mitarbeiter in einem Bank Trust über die jährlichen Nutzungssteigerungsraten des World Wide Web von unglaublichen 2300 Prozent nachdachte und zu dem Schluß kam, daß die Zeit für ein Internet-Geschäft reif sei. Als strategischer Denker legte er eine Liste mit zwanzig potentiell dafür geeigneten Produkten an, etwa Büroartikel oder Kleider oder eben Bücher. Sorgfältige Marktanalysen – Organisation der jeweiligen Branche, Eignung des Produkts für den indirekten Vertrieb, Sozialstruktur der Internet-Nutzer usw. – ließen das Buch dann an die erste Stelle rutschen, und die Dinge nahmen ihren Lauf.
Wie das Produkt wurde auch der Firmenname strategisch gewählt: Das A am Anfang war obligat, um in den häufig alphabetisch gereihten link-Listen ganz vorne mitzumischen. Der Amazonas als der unerreicht längste Fluß der Welt legt sich produktmäßig auf nichts fest und eignet sich gut als Imagefolie für die Firmenphilosophie des „get big fast“: Es geht nicht darum, heute Gewinne zu schreiben, sondern in exponentiellen Wachstumsschüben Marktanteile zu besetzen, denn das sind die Gewinne von Morgen. An der Plazierung des Firmennamens als Markenzeichen wurde systematisch gearbeitet, und die Schlacht konnte als gewonnen gelten, als das „Wall Street Journal“ von einem „amazon.com der Autobranche“ zu berichten wußte. Auch Firmenmythen verstand Bezos geschickt selbst aufzubauen, etwa das Start-up in der Garage als absolutes Muß für jedes einigermaßen innovative New Economy-Unternehmen.
Vor sechs Jahren, im November 1994, wurde der Handel aufgenommen, allerdings zunächst nur via E-Mail, im Juli 1995 ging amazon.com dann ans Netz, mit einer bereits relativ ausgefeilten Software, die einfache Benutzung und prompte „Bedienung“ versprach und mit dem von Amazon erfundenen „Einkaufskorb“, der Online-Handelsgeschichte schrieb.
Der Erfolg überraschte und überrollte dann selbst die „Amazonier“: Waren es 1995 immerhin schon 2.220 Bestellungen pro Tag, kauften 1997 täglich 80.000 Kunden bei Amazon ein. Als im Mai 1996 zum ersten Mal das „Wall Street Journal“ eine Titelgeschichte über Amazon brachte, waren die dringend nötigen Finanzbeteiligungsfirmen rasch gefunden, im Mai 1997 folgte der Börsegang und 1998, nach dem Scheitern der Verhandlungen mit der Bertelsmann-Grupe (die sich daraufhin beim Konkurrenten Barnes & Nobles einkaufte) der Sprung nach Europa. Als leitende Firmenkonzepte – so Jeff Bezos – gelten absolute Kundenorientierung, amikales aber extrem leistungsorientiertes Betriebsklima, größte Sparsamkeit bei der Firmenausstattung (hierher gehören eine Reihe von Legenden wie die vom fehlenden Packtisch) und sehr viel Improvisation. Erst 1997 wurde ein Logistiker geholt, um das chaotische Vertriebssystem zu strukturieren. Wichtig für den Erfolg waren sicher auch die enormen Kundenrabatte: 20 bis 30 Prozent auf die „Buchtips“, 50 Prozent auf die Titel der „New York Times“-Bestsellerliste – eine Werbemaßnahme, die der heimische kleine Bruder übernommen hat.
Nicht unwesentlich für den Erfolg war auch die Partizipation am Gemeinschaftsimage der Internet-Community, die sich auch in den kundengefertigten Rezensionen niederschlägt, deren Problematik auch durch die „Vielzahl von Redakteuren“, die Amazon heute beschäftigt, offenbar nicht wirklich in den Griff zu bekommen ist. Davon ist bei Spector natürlich nicht die Rede. Zwar werden die als „PR-Patzer“ titulierten Amazon-Skandale des Jahres 1999 kurz erwähnt – der schwunghafte Handel um einen Platz auf der angeblich „von den Redakteuren“ erstellten Bestsellerliste, die mißbräuchliche Veröffentlichung von Daten über das Kundenkaufverhalten, der florierende Handel mit Hitlers „Mein Kampf“ – aber die grundsätzlichen Fragen bleiben dem Leser bzw. Kunden überlassen. Etwa die, wie die nach dem Konzept „kundenorientierter Massenproduktion“ (S. 172) erstellten konkreten Buchtips („Kunden, die dieses Buch gekauft haben …“), einem Kunden / Leser nützlich sein könnten.
Aber darum geht es wohl auch gar nicht, und Bücher werden bei Amazon sowieso nicht mehr lange im Zentrum stehen. Mit der 1999 etablierten Internet-Handelskette Zshops – einer Kooperatin mit Lieferanten von Waren aller Art – sind nunmehr von A bis Z buchstäblich alle Produkte im Repertoire. Amazon.com selbst läßt damit den Online-Buchhandel fast schon wieder so antiquiert erscheinen wie den „Buchhandel aus Stein und Mörtel“, der das ganze Buch hindurch die kontrastive Negativfolie zur innovativen Amazon-Kultur abgibt. Der letzte Merksatz des Buches richtet sich wohl an alle, die gewillt sind, die Steinzeit endgültig zu verlassen: „Arbeiten Sie hart, haben Sie Spaß und schreiben Sie Geschichte“.