#Sachbuch

An den Rändern des Lesbaren

Axel Hecker

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl

„Strafen“ – unter diesem Titel wollte Franz Kafka die drei Erzählungen Die Verwandlung, In der Strafkolonie und Das Urteil ursprünglich veröffentlichen. Ohne das als eine erste, vom Autor autorisierte Interpretation zu lesen, liegt die Zusammenfassung von Analysen zu diesen drei Erzählungen in einem Band nahe. Axel Hecker tut dies im Zeichen des Schlachtrufs der Dokonstruktion. Das Ergebnis sind drei feine und sorgfältige Interpretationen, die eng vom Text ausgehend die Brüche, (Ver)Störungen, Ungereimtheiten und logischen Salti – die in den Texten selbst angelegten „dekonstruktiven Gewaltakte“ (S. 160) – aufzeigen und hinterfragen.

Die Verwandlung des Gregor Samsa, die Hecker in der ausführlichsten Analyse Schritt für Schritt dem Erzählfluß folgend als Verwandlung der Familie Samsa entwickelt, wird so zur Parabel auf die Unmöglichkeit des idealistischen Gegensatzes von Geist und Körper. Gregors radikal falscher Körper – hier fehlt auch nicht der Verweis auf aktuelle Körper- und Fitneßkulte und die ihnen eingeschriebene reale Körperfeindlichkeit – befreit ihn entgegen seiner anfänglichen Hoffnung nicht von der ihn drückenden Verantwortung, von den ihm eigenen Denkstrukturen. Geist und Körper „bleiben unwiderruflich aneinander gekettet“ (S. 73). Erst mit Gregors Tod und seiner Entsorgung durch die Bedienerin fühlt sich die Familie „von der Annahme einer Seele in dem falschen Körper wie von einem Spuk erlöst“ (S. 78).

In der Strafkolonie liest Hecker als „Geschichte einer Dekonstruktion von Rationalität“ (S. 80). Die vordergründige Rollenverteilung zwischen Reisendem und Offizier als Vertreter des neuen Zeitalters der Rationalität und Gerechtigkeit versus überholte Traditionen (mythisch begründeter) Ungerechtigkeit und Grausamkeit ist an keiner Stelle der Erzählung durchgehalten. Die Positionen geraten ins Schwanken.Unterstützt durch wiederholt zwischen Erzähler- und Figurenrede flottierender Erzählhaltung wechseln die Rollen zwischen den irritierend uneindeutigen Fronten. Diese Verwischung der (moralischen) Standorte legte der literaturwissenschaftlichen Interpretation reichlich Stolpersteine in den Weg, was sie nicht selten zu künstlichen Konstrukten im Sinne vereindeutlichender Lektüren verführte.

Das trifft auch auf die Erzählung Das Urteil zu. Für Hecker geht es hier um zwischenmenschliche Beziehungen generell, keineswegs um den in der Regel in den Vordergrund gerückten Vater/Sohn-Konflikt. Im Zentrum steht für ihn die Frage der Adäquatheit von Wirklichkeitsauffassung, die nicht objektiv zu entscheiden ist, sondern permanent am Gegenüber überprüft und adaptiert werden muß. In diesem Sinn ist der Vater nicht DIE (ver)urteilende Instanz, was die Radikalität erklärt, mit der der Text jede Erklärung für das sprunghafte und unverständliche Verhalten des Vaters verweigert. Er ist der mehr oder minder willkürliche Auslöser für den Zusammenbruch des von Georgs eingangs so selbstsicher vorgeführten geschlossenen Weltbildes und der Selbstzufriedenheit, mit der er sich darin gerade endgülitg einzurichten im Begriff ist. Es ist das – jedes beliebige – andere Bewußtsein/Weltbild, das die Brüchigkeit jedes – beliebigen – Bewußtseins/Weltbildes verdeutlicht.

Was die Untersuchungen Heckers demonstrieren, ist die Leistung so verstandener „dekonstruktiver Lektüren“: An den Lücken, Rändern und Bruchlinien des literarischen Textes, an dem, was uns beim Lesen (ver)stört, unbefriedigt zurückläßt, unverständlich bleibt, werden die irritierenden Qualitäten und Potentiale literarischer Weltbilder sichtbar, die beim Beharren auf Kontinuität und (vordergründiger) Kausalität „durch ein ‚weil‘ oder ‚um zu‘ abgefedert“ (S. 155) und damit beruhigend entschärft werden.

Axel Hecker An den Rändern des Lesbaren. Dekonstruktive Lektüren zu Franz Kafka.
Wien: Passagen Verlag, 1998.
181 Seiten, broschiert.
ISBN 3-85165-300-9.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 28.04.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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