#Sachbuch

Arthur Schnitzler

Konstanze Fliedl

// Rezension von Iris Denneler

Selten erscheint uns eine Epoche so wenig ‚Geschichte‘ wie das fin de siècle und selten ist es schwieriger, einen Zeitabschnitt als erzählbare Geschichte auf den Punkt zu bringen. Wenn sich überhaupt über diese Epoche europäischer Geistes8209; und Sozialgeschichte etwas Repräsentatives sagen lässt, dann das, dass es das Typische, Repräsentative nicht mehr gab.

Kaum in seiner Wirkung zu überschätzen, was es für die Zeitgenossen bedeutet haben muss, als die ersten elektromagnetischen Telephonapparate und der Siegeszug der Schreibmaschine die Kommunikation gigantisch beschleunigten, die Städte mit elektrischer Beleuchtung die Nacht zum Tag machten, das Automobil neue Beweglichkeit versprach, der bislang sorgsam gehütete Familienbesitz plötzlich industriell gefertigt wurde (und damit Tradition und kulturelles Gedächtnis sich aufzulösen begannen) und nicht zuletzt der Universitätszugang für Frauen das Ende jahrhundertelanger, scheinbar natürlicher patriarchalischer Privilegien einläutete. Eine Epoche zwischen Tradition und Aufbruch, Liberalismus und Konservatismus, zwischen Lähmung und Tempo. Mitten hineingeboren in diese Umbruchsphase Europas: Arthur Schnitzler. Sein Werk ist ein empfindlicher Seismograph dieser Konflikte, Spannungen, Verwerfungen.

1862 in Wien als Sohn eines jüdischen Arztes zur Welt gekommen (wobei schon der Vater als Kehlkopfspezialist in Kreisen von Schauspielern und Sängern verkehrte), begann Schnitzler bereits als Gymnasiast mit dem Datum 19. März 1879 ein Tagebuch, das er bis zu seinem Tod führte und das ihm – als er sich um 1915 anschickte, seine Biographie zu schreiben – als Zeugnis und Nachschlagewerk für die wechselvollen Jahre in die Moderne diente. Schnitzlers Leben und Schreiben lassen sich ohne diese Engführung mit der österreichischen und europäischen Geistesgeschichte nicht begreifen. Überzeugend deshalb, dass Konstanze Fliedls Einführung in Leben und Werk des Autors von ‚außen‘ beginnt, bei den politischen, kulturellen, mentalitätsgeschichtlichen Umbrüchen. Das ist spannend, lebendig, anregend.

Wie die meisten Schriftsteller holte sich Schnitzler seine so zeittypischen Figuren aus dem Leben, vorzugsweise dem eigenen. Was als süßes Mädel, exzentrische Schauspielerin, melancholischer Dandy und sprachskeptischer Intellektueller durch seine Texte spukt, waren unmittelbar gelebte Bindungen und Alter Egos; Frauen‑ und Männerfiguren, die die Schwellenzeit reflektierten und über die sich der Autor schreibend klarzuwerden, von denen er sich mitunter auch zu befreien suchte. Schnitzler war, nach dem auch für seine schriftstellerische Laufbahn wichtigen Zusammentreffen mit Olga Wassnix, der Frau eines österreichischen Hoteliers, 1890 eine turbulente Beziehung mit ‚Mizi‘, der Schauspielerin Marie Glümer, eingegangen. 1899 verlor er die Freundin Marie Reinhard, erst achtundzwanzigjährig (nachdem er zwei Jahre zuvor die Totgeburt des gemeinsamen Sohnes zu beklagen hatte). Den wechselvollen Amouren folgte schließlich die zunächst gegenüber der Familie geheimgehaltene Liaison zu Olga Gussmann, die erst 1903, nachdem im Jahr zuvor der gemeinsame Sohn Heinrich geboren worden war, durch eine Heirat legitimiert wurde. Die Ehe dauerte, mit vielen Krisen, bis zur Scheidung 1921.

Die Reflexe dieser und späterer Jahre hießen Anatol und Else, Therese und Hofreiter, Doktor Gräsler und Professor Bernhardi – und sie wurden zu Repräsentanten eine ganzen Epoche. Allerdings, was den jungen Schriftsteller über Nacht berühmt gemacht hatte, prägte und verengte auch sein Bild: Schnitzler galt zeitlebens als der Diagnostiker des süßen Mädels, des melancholischen Dandys und unheldischer Ehrenmänner. Schriften wie „Der Geist im Wort und der Geist in der Tat“, die sich quer zu diesem Image stellten, drangen kaum ins Bewusstsein. So verbietet sich einmal mehr der Kurzschluss von der amourösen Vita auf das Werk, und das noch aus anderen Gründen:

Was als deutlich misogyner Zeitgeist Eingang in sein Werk fand, entspricht keineswegs den Ansichten des Autors. Weit mehr sind die Figuren der poetischen Wahrheit verpflichtet. So entwickelte Schnitzler zu „Frau Berta Garlan“ drei Versionen des Schlusses, in dem die Protagonistin – Vorbild war Franziska Reich – zunächst unter dem Mann leidet (und Schnitzler seinem schnöden Fallenlassen quasi literarische Abbitte leistet). Doch in einer späteren Version bietet sie ihm unverhohlen den Abschied an (was, so Fliedl, auch den Abschied von Schnitzlers selbstbewusstem Ego bedeutete). Schnitzler gelang es hier, wie so oft in seinen berühmtesten Texten, in „Liebelei“, im „Reigen“, dem „Weg ins Freie“, in „Fräulein Else“, dem „Einsamen Weg“ oder im Zyklus „Komödie der Worte“, die weiblichen Heldinnen mit deutlicher Sympathie zu zeichnen, während er die männlichen Hauptfiguren mit Entfremdung und Gefühlskälte abstraft.

Von der Kritik aber wurde Schnitzler als Autor von erotischer Literatur gehandelt, der das weibliche Geschlecht als Ware, als Vorstadtgeliebte oder unbefriedigte Ehefrau desavouierte (dabei war der „Reigen“ Ende des Jahrhunderts zunächst nur als Privatdruck in 200 Exemplaren erschienen, Skandal machte erst die Bühnenaufführung in Berlin 1920/21); und man hatte keine Skrupel, das Ressentiment auf seine jüdische Herkunft zu projizieren. 1922 kam es sogar dazu, dass Hakenkreuzler eine Lesung in Teplitz sprengten. Die Mehrheit begnügte sich damit, die aktuelle politische Lage, Nationalitätenkonflikte und Rassismus, Rollenunsicherheit, Vereinsamung und Ökonomisierung der gesellschaftlichen Beziehungen zu verdrängen und vor den nahenden Katastrophen die Augen zu verschließen. Für den Autor aber bedeuteten die Zeitumstände Depression, Lähmung, Schaffenskrisen: „Meine Arbeitskraft ist minimal, meine Lust täuschend – wie die Libido eines Schwächlings (…). Die ewigen Übel: Ungeduld, Zerstreutheit, Unfähigkeit mich anzuspannen“ – so 1903 eine der Lebensbilanzen, die Schnitzler in seinem Tagebuch immer wieder zog.

Halt und Ermutigung fand er als Künstler und Schriftsteller vor allem bei seinen Freunden: Otto Brahm, dem Leiter der Berliner Freien Bühne, bei Max Reinhardt, dem Literaturkritiker Georg Brandes, Richard Beer‑Hoffmann, zunächst auch bei Hugo von Hofmannsthal; Ablenkung und Erholung auch auf den Reisen nach Oslo, Paris, in die Schweiz und nach Oberitalien, den Fußwanderungen ins Gebirge, den Radtouren. Doch im Alter wurde auch diese Unterstützung weniger. Als Max Burckhardt, der Förderer und erster Direktor des Burgtheaters, starb, kamen Schnitzlers Stücke durch den Nachfolger Alfred von Berger oft nur schleppend zur Aufführung. Breslau und Berlin mussten als Ausweichbühnen fungieren; und trotz seines internationalen Erfolgs hatte der Autor mehr denn je mit antisemitischen Angriffen zu rechnen. Die späten Kontakte zu Sigmund Freud oder das Interesse des jungen Mediums Film an Schnitzlers Oeuvre waren seltene Lichtblicke, die das Gefühl zunehmender Vereinsamung und Verstörungen nicht heilen konnten (im Juli 1928 war die Tochter Lili durch Selbstmord aus dem Leben geschieden). Am 31. Oktober 1931 fand Frieda Pollak, die langjährige Sekretärin, Schnitzler in seinem Haus in Währing am Boden liegend. Er war an einem Gehirnschlag zusammengebrochen. Schnitzler starb noch am gleichen Abend.

Konstanze Fliedl, Literaturwissenschaftlerin (mit einer Habilitation über Schnitzler) und Vorsitzende der Schnitzler Gesellschaft, hat es verstanden, in einem handlichen Bändchen profunde Kennerschaft mit Basisinformationen zu Schnitzlers Leben und Schaffen zu verbinden. Was der Biographie des Autors als chronologisch und gattungsmäßig spezifizierter Abriss des Werkes folgt, ist so wohltuend asketisch knapp, dass es an keiner Stelle Autor und Werk bevormundet. Selbst wer misstrauisch gegen literarische Readers Digest-Häppchen ist, liest diese Zusammenfassungen mit Freude, weil sie nicht nacherzählen, sondern den Leser auf Entdeckungsfahrt einladen will. Hilfreich nicht zuletzt die ausführlich Bibliographie, die allenfalls durch einen tabellarischen Lebenslauf hätte ergänzt werden können. Ansonsten nüchternes Engagement, das sich gerade bei einem Autor wie Arthur Schnitzler bewährt.

Konstanze Fliedl Arthur Schnitzler
Analyse.
Stuttgart: Reclam, 2005.
280 S.; brosch.; m. Abb.
ISBN 3-15-017653-0.

Rezension vom 09.08.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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