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Aufschreibung aus Trient

Franz Tumler

// Rezension von Martin Kubaczek

„Wir stiegen aus und suchten“, heißt es auf der vorletzten Seite dieses Romans, der ausgeht von einer kreisenden Bewegung, der Repetition im Nachfragen: Was passierte, warum passierte es, was führte dazu. Hier ist es ein dreifacher Überschlag mit dem Auto, ein Unfall, der den Erzähler mit seiner Freundin zu einem Aufenthalt in Trient zwingt; damit setzt die Konfrontation mit jener Realität ein, die der Ich-Erzähler hatte vermeiden wollen. Zuerst 1965 erschien, wurde dieser wichtige Roman im Rahmen der Tumler-Werkreihe bei Haymon textident wieder aufgelegt; er enthält alles, was Tumler an sprachlicher Präzision, motivischer Verflechtung, und skrupulösen erzählerischen Verfahrensweisen zur Verfügung stand.

Während das Auto für die Weiterfahrt in den Süden repariert wird, warten der Erzähler und seine vom Überschlag mitgenommenen Gefährtin (heute würde man von Schleudertrauma oder Peitschenschlagsyndrom sprechen) in einem kleinen Hotel. Das Vermeiden eines Zusammenstoßes mit einem Motorradfahrer führte zum Unfall, und so kreist der Erzähler immer wieder um diesen Moment, beginnt ein Prozess der Selbsterkundung, der einen extrem eindringlichen Text generiert: Konzentrisch entwickelt sich die Geschichte als ein zögerndes Schälen und allmähliches Offenlegen der persönlichen Motive und ihre vielfachen Verflechtungen in Politik und Geschichte, Herkunft und Familie. Zufällig liegt das Hotel gegenüber dem Gefängnis, nun Gedenkstätte und Museum, wo der für die Loslösung des Trentino gegen Habsburg kämpfende Cäsare Battisti 1916 hingerichtet wurde (das Foto des zur Schau gestellten Leichnams mit dem vom Pöbel umgebenen grinsenden Scharfrichter hat Karl Kraus in Die letzten Tage der Menschheit aufgenommen), und damit stellt sich eine zentrale Frage von Zugehörigkeit und Identität: nationaler wie persönlicher.

Während der Erzähler seine noch bettlägrige Freundin betreut und die Autoreparatur besprochen wird, beginnt in Mailand der Prozess gegen eine Reihe von Sprengstoffattentätern, die für Südtiroler Autonomie kämpften, unter ihnen ein Vetter des Erzählers. Zwei Zeiträume und Problemkreise werden so thematisiert: Da der früh verstorbene Vater, ein Südtiroler Lehrer und Gelehrter, der mit Cesare Battisti befreundet war, und da der Vetter, 1961 an den Sprengattentaten in Südtirol beteiligt. Der eine will sich von Österreich lösen, der andere von Italien. Der eine ist historisch, der andere gehört der Erzähl-Gegenwart an; sie repräsentieren zwei Generationen, zwischen denen eine dritte liegt: die des Erzählers und die Periode von Faschismus und Nationalsozialismus. Zugleich wird hier indirekt auch die Verstrickung des Autors in einer Ideologie zum Thema, deren Zusammenbruch ihn aus der ersten Reihe deutschsprachiger Autoren zurückgeworfen hatte; in den Fünzigerjahren entwickelte Tumler dann eine fast skrupulöse neue Schreibweise, die narrativen Mustern hochgradig misstraut und den Schreibvorgang selbst stets mit reflektiert.

Der Roman kreist auf mehreren Ebenen um das Thema des Scheiterns aufgrund von Verweigerung und Vermeidung, sucht nach Differenzierung und nach einem Verstehen aus historischen Bedingungen heraus, er sucht nach Motiven des Handelns (häufig auch: des Nicht-Handelns) und nach denen des eigenen Versagens. Dabei ergeben sich vielfach Rückblenden, Binnenerzählungen und Reflexionen mit biografischen, historischen und kulturgeschichtlichen Implikationen: die Wanderungen auf den Spuren des fast mythischen Vaters durch das Ladinische, die Einführung des Obstbaus im Tal durch einen Onkel, die komplexe gemeinschaftliche Regelung der Wasserverteilung über die dörflichen Wal-Anlagen (Gerechtigkeit zeigt sich auch hier wieder als heimliches Thema), dazu die Stein- und Wassermotivik, die den Roman durchzieht, ausgehend vom Steinbruch über dem Vaterdorf Laas mit seinem weißen Marmor; der Ort hat den Auftrag, Zigtausende von weißen Marmorkreuzen für U.S.-Soldatenfriedhöfe „in aller Welt“ (S.251) zu fertigen.

Überraschenderweise führt Tumler aber auch eine Außenperspektive im Text ein, indem er den toten Cäsare Battisti als auktorialen Ich-Erzähler auftreten lässt, der den eigentlichen Erzähler und seine junge Freundin im Gefängnishof auf und ab gehen sieht. Manches wird so überlappend und doppelt erzählt: einmal aus der subjektiven Befangenheit des Ich-Erzählers, dann aus der Außenperspektive des toten Battisti. Überraschend erscheint dabei auch die Rückgewinnung eines verlorenen Vertrauens in Rechtssprechung und Staatlichkeit: Während Battisti, obwohl als Abgeordneter des österreichischen Parlaments immun, nach seiner Gefangennahme vor ein Kriegsgericht gestellt und sofort erhängt wurde, sieht der Erzähler die Prozessführung gegen die Sprengstoffattentäter unter dem Vorsitz des Richters Gustavo Simonetti mit seinem „toskanischen Realismus“ (S. 265) auf der Basis von Vernunft und Sachlichkeit fair vollzogen.

Zuinnerst aber thematisiert der Text die Sprachlosigkeit des Ich-Erzählers in seiner Beziehung, sein Suche und sein Ringen darum, sich zu öffnen. Das Zuhören der Frau ermöglicht ihm ein stockendes Sprechen und schrittweises Eingestehen seiner Blockade und Not. Dabei wird der Vater des Mädchens als Proponent einer inneren Emigration gezeigt, der seine Passivität als Schuld empfindet, was den Erzähler zum radikalen Verdikt führt, nicht Widerstand geleistet zu haben nehme auch ihm das Lebensrecht. An diesem im Text nicht auftretenden Vater der jungen Frau wird auch die Frage der Sprachlosigkeit des Ich-Erzählers abgehandelt, der fragt, „ob jemand sich Reden nicht absprechen mußte, weil er diesen Prozeß: wenn man Verantwortlichkeit schuldig gewesen war, nicht schlichten konnte in sich.“ (S. 306)

Tumler gestaltet eine erzählerische Struktur, die vielschichtig arbeitet: Schreib- und Geschichtsreflexion, historische Motivationsstruktur, Selbstanalyse, Beziehungsbild, persönliche und nationale Geschichte werden in diesem kreisenden Gedankensystem zu einem der eindringlichsten Textgefüge autobiografischer Literatur der Nachkriegszeit entwickelt. Formal seiner Zeit um ein Jahrzehnt voraus, steht Aufschreibung aus Trient zugleich an einer Schnittstelle im Werk Tumlers: Noch einmal keimt Hoffnung auf Rückbindung und Re-Integration auf (so appelliert Battisti an den Ich-Erzähler: „hör nicht auf, mit uns zu reden“, S. 313). Dieser Hoffnung auf verstehenden Dialog wird in späteren Romane Tumlers wie Der Mantel und zuletzt Pia Faller aufgegeben, sie enden im Verstummen.

Das ausgezeichnete Nachwort von Sieglinde Klettenhammer gibt auf knapp neunzehn Seiten ein umfassendes Portrait des Autors, das politische Problemlage wie poetischen Leistungen und Fähigkeiten en detail und in nuce enthält. Denn Tumlers NS-Engagement verschattete lange den Blick auch noch auf Texte, in denen längst ein skeptisches, auf Selbstprüfung ausgerichtetes Schreiben unter dem Signum stand, Sätze zu schreiben, die nicht eine abgerundete Geschichte bilden und vordergründige Stimmigkeit erstellen, sondern ringen um „meine eigene Geschichte vom „Nichtsprechenkönnen'“ (S. 305).

Aufschreibung aus Trient.
Roman.
Mit einem Nachwort von Sieglinde Klettenhammer.
Innsbruck: Haymon Verlag, 2012.
344 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-85218-742-6.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 01.06.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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