#Sachbuch

Aufzeichnungen aus Georgien

Clemens Eich

// Rezension von Petra M. Rainer

„Mein Beutebuch aus Georgien“, so hat Clemens Eich sein Projekt im Exposé an den Verlag genannt. In dieser Bezeichnung schwingt vieles mit, was das schmale, posthum veröffentliche Bändchen assoziieren läßt: Das Abenteuer, die Gefahr, das Aneignen des Fremden und das rasche Davonlaufen mit dem Eroberten, wobei manches aus dem nicht geschlossenen Beutel fällt …

Die Aufzeichnungen aus Georgien beginnen in einem desolaten, georgischen Spital, wo der Ich-Erzähler erwacht und feststellen muß, daß er ein verletztes Auge hat. Um das Auge zu retten, muß die Reise, kaum daß sie begonnen hat, abgebrochen werden. Allerdings nicht ohne den Vorsatz wiederzukommen.
Das zweite Kapitel zeigt den Ich-Erzähler am Frankfurter Flughafen. Hier verschränken sich Ende und Anfang, Ankunft und Abfahrt, ein Motiv, das der Text auf verschiedenen Ebenen öfter aufgreift.
Das dritte Kapitel greift chronologisch weit zurück; der Ururgroßvater des Erzählers soll aus dem Kaukasus stammen. Wo genau der Vorfahre herkommt, läßt sich nicht mehr eruieren, das verbindet ihn mit den Georgiern, von denen es auch heißt, daß niemand weiß, woher sie kamen und wie lange es sie schon gibt.
Im vierten Kapitel beschreibt der Erzähler die georgische Gastfreundschaft; übrigens wechselt der Text mit diesem Kapitel vom Ich-Erzähler zum Er-Erzähler. Der Trinkspruch, den der Gast ausspricht, variiert den Satz, den die Unbekannte im Spital zu ihm gesagt hatte. („Sie haben mit allem in Georgien gerechnet, nur nicht mit sich selbst.“, S. 14) Auf daß er sich künftig nicht mehr selbst im Weg stünde. Am Ende des Kapitels wechselt der Erzähler wieder in die Ich-Perspektive.
Das fünfte Kapitel thematisiert das Phänomen Aufbruch und Stillstand in Georgien und dessen Zugehörigkeit zu Europa oder Asien; es handelt von wirtschaftlichen Tatsachen und politischen Ansichten.
Dann folgen die Fragmente, Aufzeichnungen aus zum Teil datierten Heften und Notizbüchern: aneinandergereihte Wörter oder Sätze und selten ein Absatz, so wie er schließlich im edierten Text zu lesen ist (vgl. S. 61 unten und S. 73 unten). Dieses Rohmaterial des Schriftstellers kann man als Skizze zum unvollendeten Text lesen; man kann es aber auch als eigene Textgattung sehen, in der Tradition des Journals und der Aphorismen.

Die Publikation wird von Eichs Exposé an den Verlag und dem Nachwort Greiners beschlossen. Dieses Nachwort ist einerseits eine Würdigung des letztes Jahr unerwartet verstorbenen Autors und andererseits eine Tatsachenrecherche zu Georgien (Eich war insgesamt dreimal in Georgien). Außerdem untersucht Greiner das Motiv der Grenze, das Eich schon im „Steinernen Meer“, seiner letzten Publikation zu Lebzeiten, beschäftigt hat.

Die Aufzeichnungen aus Georgien sind explizit sehr nah an der Realität angelegt und dennoch ein Text, der Fiktion auslöst. Er beschäftigt sich mit der eigenen Herkunft, den Eltern, dem Herkunftsland, auf das aus der Fremde der Blick zurück (oder nach Hause) gewandt wird. Auch der Blick auf Georgien selbst ist ein Blick zurück, insofern es an das Europa vor 200 Jahren erinnert. So ist es, trotz aller Tristesse, ein Märchenland: Die Guten sind arm, die Reichen korrupt oder verbrecherisch. Die Männer sitzen beisammen, trinken und reden, ohne dabei die Distanz zueinander aufzugeben. Die Frauen bleiben im Hintergrund, hätten aber die eigentlichen Geschichten zu erzählen. Und es ist ein Land, das den Erzähler ängstigt: Immer wieder fühlt er sich bedroht, manchmal rechnet er sogar mit dem Äußersten, mit dem Tod.
Die Sprache des Textes ist angenehm unartifiziell, aber auch nicht umgangssprachlich, sondern beinahe „neutral“. Die Sätze sind oft sehr kurz und lassen ganz ruhig, wie nebenbei und gegen alle Tatsachen, ein mythisches Georgien entstehen.

Insgesamt ist die vorliegende Publikation wohl nicht so, wie sie dem Autor vorschwebte. Geplant waren etwa 200 Seiten, eine geschlossene Sammlung von Prosa, die das Gesamtbild eines kaukasischen Teppichs vermittelt. Als Fragment, das der gesamte Text schließlich geblieben ist, haftet ihm aber der Zauber des Unfertigen und der Andeutung an. Das Ausgesparte, Fallengelassene, Verlorene ist der Raum des Denkens. Und so gesehen entsprechen die „Aufzeichnungen aus Georgien“, gerade so wie sie sind, dennoch den Plänen Clemens Eichs: „Zu Ende gedacht – was man hierzulande so sehr liebt, bis nichts mehr übrigbleibt – sollte nach Möglichkeit nichts sein.“ (S. 116)

Clemens Eich Aufzeichnungen aus Georgien
Reisereportage, Reflexionen, poetisches Journal.
Mit einem Nachwort von Ulrich Greiner.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 1999.
125 S.; geb.
ISBN 3-10-017007-5.

Rezension vom 01.04.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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