Bernhard Aichners neun Erzählungen bestechen bereits auf den ersten Blick durch eine markante Form. Der Satzspiegel ist verdichtet wie bei Gedichten, dreißig Anschläge pro Zeile und dreißig Zeilen pro Seite lassen den Leser davon Abstand nehmen, die Texte wie ein Nachrichtensprecher prosaisch hinunterzuschlingen. Kaum ein Absatz hat mehr als fünf Zeilen, sodaß der äußere Zugang unvermeidlich ein behutsamer, langsamer und lyrischer wird.
Diese äußere Form überträgt sich selbstverständlich auch auf die Textstruktur; die Sätze sind kompakt gehalten, damit mehrere Vorgänge in einem einzigen Atemzug Platz haben.
„Die Autobahn. Er überholt selten die junge Frau fragt ob sie rauchen darf und er hält.“ (S. 4) Mit so einem Satz ist die gesamte Fahrt vom Norden bis nach Florenz erzählt.
Bernhard Aichners Lebensgeschwindigkeit als Pressefotograf kommt in den Erzählungen immer wieder zum Vorschein. Einerseits sind die Figuren rasend schnell von einem Quicky zum anderen unterwegs, andererseits geben die Erinnerungsbilder oder Pressefotos durchaus Anlaß, meditativ den Lauf der Zeit und das Zupacken des Schicksals zu analysieren.
„Es ist warm in der Via Mazzini“ erzählt von einem Mann, der nach vier Jahren seine Frau verlassen hat, weil er sie nicht ewig lieben kann. Auf dem Weg in den Süden nimmt er eine Autostopperin mit, die allmählich die verlassene Frau ersetzt. Jedes Jahr im Norden braucht eine Stunde Süden, damit man es vergessen kann. Aber wie bei einem bereits bespielten Tape kann man die Vergangenheit einer Beziehung nur überspielen, aber nie löschen. Letztlich sitzt der Mann mit einer anderen Frau im Süden statt im Norden, das ist es.
Die Titelgeschichte „Babalon“ berichtet von einer „alten, faltigen Hure“ (S. 17), die in einer zweiten Welt die schönsten Liebesbriefe schreibt und empfängt. Der Duden gibt zu „baba“ die sinnliche Kinderfügung an: „pfui, das ist baba!“ Die Briefe von Madame überleben auch ihren Tod, und im Dorf bleibt nur der schöne Teil der Liebespost in Erinnerung, der fleischliche Teil ist alsbald vergessen.
„carla.com“, ein Titel wie eine Internet-Adresse, erzählt von einem besessenen Fotografen, dessen Voyeurismus jedem Geheimdienst zur Ehre gereichte. Opfer des Fotografen wird eine blinde Frau, die keine Ahnung hat, daß sie auf tausenden Fotos meterweise Dokumentationen füllt. Das Täter-Opfer-Verhältnis gerät über die Fotografie hinaus für beide zur Obsession, die im blauen Lichte des 21. Jahrhunderts aufgezeichnet wird.
„Immer wenn du Hunger hast“ versetzt eine Frau in Schrecken, als sie bei der Zustellung von Essen auf Rädern plötzlich auf den ehemaligen nunmehr gelähmten Geliebten trifft. Die Liebe aus dem ersten Akt wird nun im zweiten Akt der Pflege vollendet. Der Höhepunkt der Liebe besteht schließlich darin, daß die Frau ihrem Geliebten eine geglückte Sterbehilfe angedeihen lassen kann.
„Die Frau am Fenster“ ist ein Stilleben, in dessen Mittelpunkt eine Frau am Fenster steht. Ein Maler erarbeitet Zug um Zug, Falte um Falte das Schicksal der Frau, die nach dem Tod des Mannes zum ersten Mal etwas vom Leben mitbekommt.
Im Mittelpunkt von „Fotografien“ steht ein Architekt, der bei einem Überfall auf eine Tankstelle wie in Trance einen Sterbenden fotografiert. Plötzlich gehen seine Bilder durch die Presse, und zum ersten Mal hat er etwas Sinnvolles zusammengbracht. Allerdings wird der Hobby-Fotograf das Bild des Sterbenden nicht mehr los, es verdunkelt sein Leben.
In „Zwischen den Bananenblüten“ wird eine Liebschaft jäh in eine andere Dimension katapultiert, als sich herausstellt, daß er sich an einer tödlichen Krankheit infisziert hat. Dabei war die Liebe ursprünglich ganz paradiesisch: „Er war an der Tankstelle wo sie arbeitet weil sie leben muß und ihre Bilder nicht das Brot sind das sie gerne essen würde.“ (S. 82)
„Klarinetten & Trompeten“ greift das Schicksal einer tubaspielenden Musikantin auf, die eine lesbische Beziehung zu einer Holländerin hat und dafür verachtet wird.
In „Ein Fisch schwimmt“ schwindelt ein drogenabhängiger Werbemensch sogar seiner eigenen Frau ein glückliches Leben vor, ehe alle Koordinaten des Glücks gekappt werden.
Bernhard Aichners Figuren haben alle ein starkes Schicksal, das die Handlungsfähigkeit der Protagonisten im entscheidenden Moment reduziert. Die neun Erzählungen laufen beinahe wie in Schnitzlers „Reigen“ ineinander über, aber ihre Verbindung ist zufällig wie die Verbindung zwischen Unfallopfern eines Wochenendes. Mit fotografischer Genauigkeit geht Bernhard Aichner den Spuren dieser Helden nach und beschützt sie vor dem Rachen des Alltagsjournalismus.