Während ihres Aufenthalts im Libanon, wo sich Schätzungen zufolge zwischen 600.000 und einer Million Flüchtende befinden, erkunden Prosser und Pill nicht nur die „vielen Welten Beiruts“, sondern führen auch und vor allem zahlreiche Gespräche – mit Geflüchteten und Ortsansässigen ebenso wie mit zufälligen Bekanntschaften, Kriegsveteranen oder NGO-Mitarbeitern. Und diese zeichnen ein erschreckendes Bild vom prekären Alltag der Vertriebenen, die sich mitunter seit Jahren in einem dauerhaften Wartezustand befinden, weil sie „nicht mehr zurück nach Syrien, aber auch nicht woanders hin“ können; wegen „einem kaum durchschaubaren Konflikt verschiedenster Armeen und Allianzen“, bei dem es lediglich eine Gewissheit gibt, nämlich „dass Assad nicht gestürzt werden kann“.
Beirut im Sommer ist jedoch weit mehr als das Ergebnis eines zweiwöchigen Aufenthalts im Libanon. Prosser stellt seine dortigen Erlebnisse sowie die Schicksale seiner Gesprächspartner in einen größeren Zusammenhang und zieht dabei Verbindungen zu anderen, ähnlichen Begebenheiten und Geschichten. Unter anderem beschreibt er etwa eine Reise zu den Flüchtlingslagern auf der griechischen Insel Lesbos, Prossers „erste(m) Versuch, einen Zugang zur syrischen Tragödie zu finden“, oder auch ein Gespräch mit einem Überlebenden des Srebrenica-Massakers. Und so ergibt sich ein ganzes Geflecht von Geschichten, dessen Knotenpunkte jene Menschen sind, die sich bereiterklärt haben, mit Prosser über ihre oftmals traumatischen Erfahrungen zu sprechen oder ihm bei seinen Recherchen behilflich zu sein – sei es nun, weil sie ihre Erinnerungen mit ihm teilen oder ihre Wohnungen.
Nicht zuletzt ist Beirut im Sommer aber auch eine Art Einblick in Prossers Werkstatt, ein Blick hinter die Kulissen seiner Romane, wenn man so will, ein anderer Aspekt seines Schaffens als Schriftsteller. Insbesondere in seinen letzten Werken, „Phantome“ und „Gemma Habibi“, hat er sich bereits mit ähnlichen Themen auseinandergesetzt, diese allerdings literarisch verarbeitet. Das Journal offenbart hingegen eine andere Herangehensweise, hat andere Ansprüche und fordert darum auch eine andere Lesart. Worum es Prosser dabei geht, erläutert er indirekt am Ende des Buches: „Dieses Zuhören, das Verlorengehen im Zuhören, machte mir auch bewusst, wie elementar die Erfahrung des Erzählens ist. Wie notwendig, um unserer Wahrnehmung der Welt mehr Tiefe zu geben, mehr Facetten, und ihr dadurch zu mehr Menschlichkeit zu verhelfen.“
Die Realität, die Prosser in Beirut im Sommer beschreibt – eine Realität, die sich zwischen Syrien und Libanon, zwischen IS und Hisbollah, zwischen Flüchtlingslagern und Camps, zwischen Kriegen, Fluchten und Asylanträgen abspielt – ist eine, die für uns, die wir in sicheren Gebieten leben, unvorstellbar ist. Und die wir uns genau deshalb vorstellen müssen. Bücher wie Prossers Journal helfen dabei.