Beteigeuze ist einer der verhaltensauffälligsten Sterne am Firmament. Mal leuchtet er stärker als alle andern, dann wieder verfinstert sich das halbe Gestirn. Auch rätseln Fachleute wie Laien darüber, ob er überhaupt noch lebt: Ob die Supernova, die ihm als rotem Überriesen früher oder später droht, noch aussteht, oder er längst explodiert ist und bloß wir unbedarfte Erdlinge bislang keine Kenntnis davon nahmen. Besonderes Augenmerk auf den Schulterstern des Orion hat Theresa Neges, 40-jährige Protagonistin in Beteigeuze.
Sobald man nun aber an die Schilderung dieser Gestalt geht, tun sich die Probleme auf. Das hat seinen Grund nicht zuletzt darin, dass die Ich-Erzählerin, so liebenswürdig uns ihre zarte Sprache auch zu umfangen vermag, radikal unzuverlässig bleibt. Es gibt Momente bei der Lektüre dieses Buches, wo plötzlich zweifelhaft wird, ob sich nur eine einzige der geschilderten Szenen wirklich zugetragen hat; ob nicht das gesamte bunte Personal die Phantasmagorie einer Verrückten ist, die ihre Pillen verweigert. Die folgenden Streiflichter stehen daher unter dem Vorbehalt, dass in Wahrheit alles ganz anders sein könnte.
Theresa ist also 40 und wohnt in einer winzig kleinen blauen Wohnung im 2. Wiener Gemeindebezirk, wo sie am liebsten, auf dem Boden liegend, einen großen grauen Federmantel über sich gebreitet, den Kopf zur Balkontür hinausstreckt und in den Sternenhimmel schaut. Manchmal ist Josef neben ihr, jener Mann, den sie (manchmal) liebt, der aber auch noch eine andere zu haben scheint. „Ich muss an Josef denken, vor der Seilerstättengarage, wie er die Schultern einzieht in der Kälte. Wie er sich aus dem Bett schiebt in der Früh, zuerst stehen seine Füße auf dem Boden, wie lang er dann dasitzt an der Kante, ins Leere schaut. Aber bestimmt würd ich vermissen, wie er meine Wangen küsst, zuerst links, dann rechts, sehr hoch oben, am höchsten Punkt des Wangenknochens, nicht weit vom Auge entfernt, sodass ich blinzle. Und wer wird meine Dunkelheit aushalten wie Josef, so geduldig. Und meine Schnelligkeit, in die ich manchmal falle.“ (S. 27)
Im Jahr zuvor war Theresa im AKH interniert gewesen, nachdem sie auf den Wilhelminenberg gegangen war, um „den Sichelmond einzufangen am ersten Wintertag, mit einem Käfig.“ (S. 43) Im Krankenhaus dann ein Alarmeinsatz, weil sie mit einer Schere die Spitalswände ihres Himmelblaus entledigen wollte. Seit der Entlassung Therapie bei Dr. Strasser, um den rechteckigen leeren dunklen Hohlraum in ihr drinnen zu bannen, und täglich eine Handvoll Tabletten, die sie übelriechend machen und ihr die Lust zum Reden nehmen. – Da ihr das alles viel zu blöd ist, ihr die Sicht auf den Himmel verschleiert und das Gespür für den Wind nimmt, verweigert sich Theresa beidem und lässt uns an ihren poetischen Gängen durch die Stadt und ihren weitschweifenden Erinnerungen an ihre Ahnen teilhaben.
Von ihren mitunter recht abwegigen Unternehmungen seien hier ein paar angedeutet: Weil das Hallenbad, an dessen Beckengrund sie täglich ein paar Minuten die Luft anhält, einer Sturmwarnung wegen geschlossen hat, springt Theresa kurzerhand in den Donaukanal. Um die saftige Birne aus dem Supermarkt nicht bezahlen zu müssen, täuscht sie an der Kasse einen Weinanfall vor und bekommt die Frucht aus Mitleid geschenkt. Der Chef des Kaffeehauses, in dem sie arbeitet, droht ihr wegen ihres seltsamen Gebarens täglich mit der Kündigung und als diese dann tatsächlich erfolgt, kommt es zu einer wilden E-Scooter-Fahrt, die mit Unfall und Fahrerinnenflucht endet. Die Karussellfahrt im Prater, barfuß und hoch hinaus, um dem Himmel etwas näher zu kommen. Und im Zentrum von allem immer wieder Beteigeuze, der unruhige Stern – oder Josef, dieser so sanfte, aber zusehends unwirklicher werdende Mensch an ihrer Seite. Mit Fortdauer des Romans erscheinen aber auch mehr und mehr Figuren aus der Vergangenheit: Verwandte, bei denen sich in ähnlicher Weise jenes Bedürfnis nach Himmelstranszendenz mit der Verschließung in die eigene Innerlichkeit verband.
Ebenso wie Rückblenden auf die eigene Kindheit inmitten der 7 Plejaden, wie sie ihre Geschwister nennt, können diese vielzähligen Geschichten von Tanten, Groß- und Urgroßeltern als eine Art der Genealogie von Theresas Sternesucht gedeutet werden. Zeman lässt sich dabei häufig von der Etymologie der Namen, von kulturhistorischen Artefakten oder bloßen Farbassoziationen leiten und lässt so Theresa ein Ahnengeflecht spinnen, das dem Roman seine seltsame Unwägbarkeit verleiht.
Alles scheint irgendwie ins Nichts gebaut zu sein, und doch vermitteln die vielen anhand der Vorfahren entworfenen Bilder des Weltschmerzes eine Dringlichkeit und Tiefe, wie sie eine bloß am Realen orientierte Beschreibung nicht herzustellen vermöchte. Entsprechend wäre auch die Parallelbewegung zwischen den Fiktionen der Protagonistin Theresa und der Schreibpraxis der Autorin Zeman zu werten: Beide fingieren, um Gehalt zu erhalten – und sei’s auch zum Preis dessen, was gemeinhin als Realgehalt der Dinge gehandelt wird.
Poesie und Wahnsinn, so könnte man sagen, treffen sich dort, wo die innere Leere so groß und spürbar geworden ist, dass sie durch die gesellschaftlich legitimierten Handlungs- wie Beschreibungsfolgen nicht mehr zugedeckt werden kann.
Zemans Verweigerung einer linearen, kausallogisch geordneten Erzählabfolge antwortet möglicherweise auf dieselbe Verlegenheit, in der auch ihre Protagonistin sich befindet, wenn sie ihre Sehnsucht für zu groß und schön hält, als dass man sie mit Tabletten oder Phrasen kaltstellen dürfte. Dass Zeman dann die Form findet, in der das Inkommensurable gestaltbar wird, zeichnet sie als Literatin im besten Sinne aus.
Schon Zemans Debütroman Immerjahn (2019) hat sie als eine ungemein sprachbedachte und detailvernarrte Autorin gezeigt. Wer sich über das Stillstehen der Ereignisse in diesem ersten Buch geärgert hat, darf sich nun in Beteigeuze auf Unrast und Ruhelosigkeit freuen. Dort eine stagnierende Seele, die das Treiben um sich in steter Gleichgültigkeit registrierte, hier ein rastloser Körper, das Gesetz seines Umschwungs suchend, auf dass sich so ein Zentrum, eine Seele erst fände.
Und als Leseanleitung sei hier noch mitgegeben, was Theresa Neges im Gespräch zu Josef sagt, da der ihr einmal vorhält, dass sie kaum vorankomme in ihrem Buch (Lidija Tschukowskaja, Untertauchen): „Ich könnte es sofort in einem Zug auslesen, aber ich tu es nicht, weil es schade um die überflogenen Sätze wäre, ich will in den Sätzen drin sein und nicht außen drauf.“ (S. 49)
Franz Schörkhuber ist als Lektor für deutsche Sprache und Literatur in Bratislava tätig.