Für einen Autor ist der Verzicht auf einen eigenen, ins Detail gehenden Text ein gewagtes Unterfangen. Gibt er doch der Leserin / dem Leser damit die Möglichkeit, eigene, vom Autor vielleicht nicht intendierte Bilder und Geschichten zu entwickeln. Denn beim Lesen hat die Leere der Buchseiten eine bemerkenswerte Wirkung: Man hält inne und lauscht den Worten und ihren vielen verschiedenen Bedeutungen nach. Es bilden sich Assoziationsketten, die sich immer stärker verzweigen. Man forscht nach den Ursprüngen und Verwandtschaften und dem Sinn dieser Bedeutungszusammenhänge.
Erinnerungen an stille, im hektischen und beliebigen Alltag unbeachtete Momente werden wach. Nebensächliche Beobachtungen bekommen einen besonderen Stellenwert. Die Leserin / der Leser taucht innerhalb weniger Zeilen in eine surreale Welt ab und verliert sich darin. So sehr man in den einzelnen Sprachbildern träumend davongleitet, so ist man dann doch überrascht, dass es im Buch eine gewisse räumliche Bewegung des erzählerischen, nie klar definierten „Wir“ gibt. Immer wieder tauchen der Fluss, der Wiesenweg, eine Straße oder Häuser auf. So durchquert das „Wir“ eine Stadt, die keine konkreten Züge annimmt. Es gibt kein Ziel. Am Ende verläuft sich das „Wir“ und landet statt in der Bienengasse in der Birnengasse. Ein einzelner Buchstabe nur, doch schon verändert sich der Sinn des Wortes, die Vorstellungen, die sich damit verbinden. In der Welt der poetischen Sprache bedeutet dies statt eines Missgeschicks eine Bereicherung. Denn so wird ein neuer Raum entdeckt oder vielleicht erst geschaffen.
Mathias Müller schließt an eine Tradition von großen Avantgardistinnen und Avantgardisten an, die keine stringenten Geschichten erzählen wollten, sondern sich auf die subjektive Suche nach dem Klang der Worte, nach ihrem Sinn, ihren Wortstämmen gemacht haben. Manche dieser literarischen Vorfahren wie Kurt Schwitters, Inger Christensen oder Ossip Mandelstam setzt er mit Zitaten in der Originalsprache neben seine eigenen Sätze. Aber dem Autor geht es nicht um das pure Aufzählen von Namen, um den Beweis seiner Belesenheit zu erbringen oder um sich selbst auf diese Weise in die europäische Literaturgeschichte einzureihen. Ihm geht es mit den Zitaten um nichts als um den Klang der Worte und das Nachspüren, was sie für ihn selbst bedeuten könnten. So schreibt er:
„…und ich spreche viele Sprachen nicht. Aber es ist schön, über ein Wort zu stolpern. Öffnet uns das nicht die Ohren? Werden nicht Ähnlichkeiten sichtbar? Ein Fehlerchen fliegt auf und setzt sich auf ein Wort und das Ohr ist ein Ort, an dem Verwandlungen vor sich gehen.“ (S. 126)
Denn die Worte brauchen Raum zum Wachsen, damit aus ihnen eine neue Welt entstehen kann. Mathias Müller gibt den Worten diesen Raum.