Der mächtige Löwenkopf mit dem noch im hohen Alter vollen, schlohweißen Haar, das ausdrucksvolle Gesicht, der zugeknöpfte Mantel, die stämmige Figur – in Zürich, der Stadt, in der Elias Canetti (1905–1994) seine letzten 22 Lebensjahre verbrachte, war der Schriftsteller allen an Literatur Interessierten bekannt, nach der Verleihung des Nobelpreises für Literatur im Jahr 1981 an ihn auch einer größeren Öffentlichkeit. Heute, 30 Jahre nach seinem Tod, ist er zurückgesunken auf den Nimbus eines Autors für die Happy Few.
Elias Canettis langes Leben reflektierte die Schrecken wie die Brüche der Moderne. Fast bis zum Lebensende von anderen finanziell abhängig, von der Mutter, vom jüngeren Bruder, von seinen beiden Ehefrauen wie von wohlhabenden Geliebten, verbrachte er sein physisches Leben in sehr bescheidenen Umständen, lange an der Grenze zur Armut. Zeitweilig reichte das Auskommen gerade einmal für Miete und Essen, bei Anfällen von Übermut für Bücher. Am Ende seines Lebens umfasste seine Bibliothek mehr als 15.000 Bände.
Sein geistiges Leben war hingegen überreich. Es war allumschlingend. Besucher und Gesprächspartner bewunderten sein Lektürepensum, bestaunten seine kannibalisch anmutende Neugier auf Wissen und auf Menschen. Doch er konnte manchmal auch vulkanisch gegen andere wettern, exaltiert und negativ urteilen und seinerseits scharfe Verurteilungen hervorrufen.
Sein Repertoire an Basis-Lebensthemen, die nur scheinbare Schlichtheit seiner Sprache, die etwas irritierende Ich- und Er-Position in den seit 1942 bis zu seinem Tod im August 1994 fast täglich notierten Aufzeichnungen und deren Mischung aus eigenen originellen Gedanken, brillanten Wendungen und Zitaten stehen sämtlich schon um die Jahreswende 1931/32 fest. Ebenso seine Entschlossenheit. „Alles macht mir Eindruck“, so der junge Canetti. „Ich bevorzuge nichts.“
Ebendiesen Eindruck gewinnt man nach der Lektüre der 32 Texte Franz Schuhs über Canetti aus insgesamt fünf Jahrzehnten, der jüngste geschrieben im Frühjahr 2024, auch. Das Spektrum der abgehandelten Themenblöcke, Themensplitter, der Impressionen, Gespräche, Divertimenti und Miniaturen ist beeindruckend, es reicht von Biographischem über Topografisches („Unser Wien“) zu Debatten über Glück und Verlust, Leben und Denken, Räsonnements über Größenwahn und Spiel.
Bei diesen weiten Bögen, die Herausgeber Bernhard Kraller hingebungsvoll nun zu einem Buch-Panorama zusammengefügt hat, fällt einem der erste Satz aus Canettis Party im Blitz ein: „Ich bin in Verwirrung über England, es war ein ganzes Leben, eingefügt in ein Früher und Später und im Grunde ausreichend für alles.“ Und final dann der letzte Absatz daraus: „Soll ich seine [Englands] idyllische innere Verfassung vor fünfzig Jahren schildern? Wer wird mir glauben? Wen geht es etwas an? Ich würde die Heiterkeit des Alters dazu brauchen, die ich nicht oder nur manchmal, viel zu selten, habe.“ Zwischen diesen Polen – trotz der konzedierten „Verwirrung“ eine positiv grundierte Stimmung des retrospektiven Blickes hie, skeptische Nachdenklichkeit, Selbstkritik und anklingende Verzweiflung über nachlassende Kräfte da – bewegten sich Elias Canettis Aufzeichnungen über seine „englischen Jahre“.
Und zwischen diesen Polen oszilliert Schuh oft anregend und auch dort anregend, wo er, sprachlich pointiert, zum mal sanften, mal energisch apodiktischen Widerspruch herausfordert. Hinzu kommen Begleit-Essays von Brita Steinwendtner, Konrad Paul Liessmann, Gerald Stieg (stupend sein Essay Canetti als Anti-Nietzsche. Über Nietzsche und dessen Parallelen zum Islam) und des Herausgebers Bernhard Kraller, der sich mit Canettis politischen Attitüden beschäftigt, ein Thema, das größere Vertiefung verdiente.
„Alles bei mir geschieht spät. Aber es ist schon viel, dass es geschieht; und es gibt mir das Vertrauen, dass mein Werk noch nach meinem Tod bestehen bleiben wird, – das Einzige, worauf es ankommt.“ So Elias Canetti. Und so auch Franz Schuh, der in jüngerer Zeit Vergänglichkeit immer stärker akzentuiert hat. So kommt dieses Lesebuch spät, aber glücklicherweise nicht zu spät.
Als nahezu unerschöpflich erscheinen Canettis schlackenlose Aufzeichnungen in ihrem funkelnden Erkenntnisreichtum, ihrem Glauben an die Erkenntnisfähigkeit des Menschen und an ein rückhaltloses Ausloten anthropologischer Grundsituationen. Dieses Polylog der Moderne ist voller Paradoxe, Überraschungen, Widerhaken und erratischer Rätsel. Ende Dezember 1982 notierte Canetti, dessen lebenslanger Hass dem Tod galt, vielsagend: „Rätsel hinterlassen oder du stirbst wirklich.“
Umso irritierender erschien jenen, die sich am übergroßen Selbstbewusstsein des Dichters stießen, seine Welt-Verweigerung. Diese kann man Franz Schuh nun nicht vorhalten. „Nur kein Beruf, nur kein jährliches Buch, keine Nachfrage, kein Verdienst und kein Interesse!“, ermahnte sich Canetti einmal. Und all dies lässt sich Schuh auch nicht ins Stammbuch schreiben.
Denn gespannt kann man heute bereits auf die avisierte Fortsetzung, pardon: Fort-Schreibung, sein, den Band Urteilen als Kunst. Zur Aktualität von Karl Kraus.
Alexander Kluy ist Autor, Kritiker, Herausgeber, Literaturvermittler. Zahllose Veröffentlichungen in österreichischen, deutschen und Schweizer Zeitungen und Zeitschriften. Editionen, zuletzt Felix Dörmann – Jazz (Edition Atelier, 2023) und Egon Erwin Kisch – In Hollywood wächst kein Gras (Limbus Verlag, 2023). Zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt in der Edition Atelier die Bände Der Regenschirm. Eine Kulturgeschichte (2023) und Giraffen. Eine Kulturgeschichte (2022) sowie im Corso Verlag Vom Klang der Donau (2022).