Jedoch haben Dolgans Texte keine geliehene Aura, keine an andere angelehnte Authentizität. Es sind im dunklen künstlerischen Gegendiskurs, der von Kafka bis zu The Cure, von Jelinek bis David Lynch reicht, zwar verortbare, für sich aber vollkommen originäre Archäologien des Existenzparadoxons. In der Erzählung Dein Schwesternphantasma heißt es: „Du legst frei, was es bis dahin nicht gegeben hat.“ (S. 45) Es liegt nahe, diesen Satz als programmatisch für Christoph Dolgans gesamtes Schreiben zu lesen.
Eine Qualität des Dolganschen Erzählens ist ein sehr bewusster Umgang mit dem Nicht-Geschriebenen. In der ersten Erzählung des Bandes, Die Sammlung, hilft die polnische Pflegerin Ana, in ihrer anderen Welt Studentin der Wirtschaftsinformatik und Germanistik, einem alten Professor, Wörter zu sammeln. Sie schiebt ihn im Rollstuhl durch, wie ihr erst bei diesen Ausfahrten auffällt, mit Schrift übersäte Straßen. Er hält Ausschau nach Wörtern, die später aus ihren Schriftkontexten gelöst, wie Insekten präpariert und in der riesigen, von niemand besuchten Wohnung in Schaukästen ausgestellt werden. Ana ist eine wesentliche Akteurin in diesem Such- und Sammelprozess, aber sie – und die Lesenden – wissen nicht, was diesem zugrunde liegt. Die Hintergründe und Zusammenhänge der Praxis des Professors sind „geheimnisvoll und unverständlich. Das Regelwerk des Professors musste ein riesiges Labyrinth sein, in dem nur er sich zurechtfand.“ (S. 19)
Ähnlich verhält es sich auch beim Text Der Sohn meiner Schwester, in dem ein Schriftsteller ein Wochenende lang auf seinen Neffen aufpassen soll. Die überwiegende Zeit verbringen die beiden mit einem in seinen einzelnen Zügen exakt beschriebenen Spiel, dessen Regeln aber letztlich vollkommen unverständlich bleiben (müssen). Wenn überhaupt, so lässt sich wohl nur sagen, dass Verlierer und Gewinner keineswegs eindeutig feststellbar sind: „Bei jedem seiner Triumphe schlug mein Herz schneller, und ich schwelgte darin, wie sehr er an seinen Siegen litt. Es war ein verrückter Rausch des Verlierens, den ich auf obszöne Weise genoss.“ (S. 227)
Christoph Dolgans Erzählungen sind nicht Variationen derselben Stoffe, derselben Schreibweisen. Hier ist kein Autor am Werk, der nach einem einmal erprobten Schema F verfährt, sondern in seinen erzählerischen Laboratorien mit immer neuen Versuchsanordnungen experimentiert. Die übergeordnete Klammer dieser Texte ist ihre widerständige, ja widerborstige Ästhetik, die sich gegen eine eingängig-affirmative Rezeption sträubt. Wo andere Honig zwischen die Geschichtenräder pinseln, damit eine Story konsumierbarer wird, schmiert Dolgan Teer hinein. Wenn beispielswiese in Danke. Platz. Komm. Schiess zu Beginn kleine Kätzchen in einem Klosterhof in ihrer niedlichen Verspieltheit beschrieben werden, dann nur, um ihnen gleich darauf von einem Katzenjäger das Genick brechen zu lassen. Denn in der Welt der Erzählung ist der letzte gemeinsame Nenner dieser politisch wie sozial auseinandertreibenden (Online-)Welt, das eine Wesen, auf das sich alle einigen können, die Katze, zum schwarmintelligenten Killer mutiert. Die Katzendystopie als Ende der Menschlichkeit.
Lost people in lost places fungieren häufig als Hauptfiguren in den Texten von Blitzeisidentität: Der Briefträger in Leben, wo ist dein Stachel?, der in einem zur Hälfte verlassenen Haus wohnt und sich selbst die Kündigung zustellen muss. Der Junkie-Schriftsteller, der sich in einem heruntergekommenen No-Go-Shopping-Center bei einem Storydealer Stoff (so heißt die Erzählung) besorgen möchte und dort auf seine (Ex-)Kolleg:innen trifft: „Dutzende Halbtote, zurückgekehrt aus einer Unterwelt, die sie sich selbst erschrieben hatten. Und in allen Zombiegesichtern dasselbe Verlangen nach Stoff.“ (S. 241–242) Die im buchstäblichen Sinn gegen den Tod Rebellierende, die sich stellvertretend für ihre „Totmann“-Chatgroup auf einen Anschlag auf den Grazer Zentralfriedhof vorbereitet.
Kommunikation als in beide Richtungen offene Interaktion findet kaum statt. Stattdessen finden sich Monologe wie der des unadressierbaren, liminal-latenten „Schwesternphantasmas“ oder jener der in DNS-Wasserturm auftretende Primaria, die in Thomas-Bernhardscher Übertreibungsrhetorik einem Journalisten die Baustelle eines von ihr initiierten „Psycho-Towers“ (S. 115) erklärt.
Für einen so sprachbewussten, wahrnehmungs- und beschreibungexakten Autor wie Christoph Dolgan ist die beständige Meta-Reflexion des eigenen Aus-Buchstabierens von Wirklichkeit unabdingar. Ein besonders eindrückliches Bild für den transgressiv-transzendierenden, letztlich ephemeren Charakter des literarisch-künstlerischen Weltmanifestierens findet sich in der dem gesamten Band den Titel gebenden Erzählung Blitzeisidentität. Die Kontemplation des sagbaren Realen und seiner möglichen Auswirkungen auf die außerliterarische Wirklichkeit wird in einer Erzählung in der Erzählung metaphorisch im doppelten Sinne gespiegelt: Das Seelen-Spiegelbild einer Frau zeichnet sich auf wundersame Weise ins Eis einer Regentonne. Doch beim Versuch, das enigmatische Eis-Polaroid für die dauerhafte Konservierung ins Haus zu bringen, zerrinnt es wortwörtlich zwischen den Fingern.
In Christoph Dolgans Erzählungsband Blitzeisidentität ist eine schier unerschöpflich scheinende Zahl an außergewöhnlichen Einfällen mit einer beeindruckenden Vielfalt an souverän beherrschten Ausdrucksmöglichkeiten verschränkt. Die Erzählungen sind zwar in einem überreichen Referenzrahmen verortet, so werden die einzelnen Texte mit Zitaten von Franz Kafka, Karl Kraus, Robert Musil, Nick Cave, Bruce Springsteen oder auch den Einstürzenden Neubauten eingeleitet. Auch ließen sich Verbindungslinien zu anderen Extremerzählkünstler:innen wie dem rumänischen Autor Mircea Cartarescu ziehen. Letztlich aber steht Christoph Dolgans Schreiben in seiner literarischen Qualität auf singuläre Weise für sich. Es wäre zu wünschen, dass dieser wie seine Figuren oft im Schatten stehende Autor endlich jene Anerkennung von Literaturkritik und Lesepublikum erhält, die er sich seit langem verdient.