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#Debüt

Blutsschwestern

Ana Wetherall-Grujić

// Rezension von Daniela Fürst

Triggerwarnung: In diesem Roman gibt es explizite Beschreibungen von Blut, psychischer und physischer Gewalt, die einige Personen als verstörend oder belastend empfinden könnten. Ach ja, und es geht auch um tiefe Schwesternliebe.

Der unerwartete Anruf ihrer jüngeren Schwester überrascht Sanja während eines unbedeutenden Sexdates und beendet nicht nur dieses abrupt, sondern auch einen über zehn Jahre dauernden Lebensabschnitt, in dem sie weder zu ihrer Schwester noch zu ihrer Mutter Kontakt hatte. Währenddessen hat sie als zielstrebige und erfolgreiche Unternehmensberaterin Karriere gemacht.

Ihre Schwester Ljiljana, die optisch, charakterlich und in ihrer Lebensführung so ziemlich das Gegenteil von Sanja ist, durchbricht das Schweigen, als sie von ihrem Freund krankenhausreif geschlagen wird. Das mehr als unschöne Ende einer romantischen Hotelnacht zum Jahrestag zwingt sie nun unterzutauchen. Einen möglichen Ausweg liefert ausgerechnet die Mutter, indem sie Ljiljana und Sanja, die sich in der Zwischenzeit ebenfalls im Krankenhauszimmer eingefunden hat, von der „Hexe“ erzählt, die ihr selbst vor über dreißig Jahren zu einem neuen Leben verholfen hatte. Genau das erhofft sie sich nun wieder, nur dieses Mal für ihre Tochter.

Die Hexe lebt aber in einem kleinen Dorf in Serbien, aus dem die Eltern 1989 fliehen mussten und das den beiden jungen, in Österreich aufgewachsenen Frauen bis auf die Ferienaufenthalte in ihrer Kindheit kaum vertraut und Sanja sogar regelrecht verhasst ist. „Fahrt auf dem Weg dorthin an vier, fünf Banken vorbei und hebt so viel Geld ab wie möglich. Je mehr, desto besser. Sie wird nicht billig sein. Wenn ihr über die Grenze seid, schmeißt euer Handy weg. Wenn ihr in dem Dorf eintrefft, fragt nach der Hexe“ (S. 48). Mit diesen mütterlichen Anweisungen und einer Wegbeschreibung machen sich die Schwestern im uralten Auto der Mutter noch in derselben Nacht auf den Weg.

Die beiden begeben sich auf eine Reise, die nur vordergründig eine Autofahrt in die alte Heimat der Eltern ist. Tatsächlich beginnt sowohl für Ljiljana wie für Sanja auch eine persönliche und innere Reise. Ljiljana bleibt nur die Flucht nach vorne, denn in diesem Hotelzimmer, in der Nacht zuvor, hat sie eine unsichtbare Grenze überschritten, die eine Rückkehr unmöglich macht. Aber auch für Sanja hat die Entscheidung, ihrer Schwester beizustehen, ungeahnte Konsequenzen. Auch wenn sie wohl schon ahnt, dass dieser Schritt etwas Unumkehrbares in Gang setzt und sie danach nie wieder einfach so in ihr altes Leben zurückkehren können wird, bewahrt sie genau diese Vorstellung davor, völlig durchzudrehen.

In Österreich hat sich Sanja eine Identität aufgebaut, dank der sie sich die meiste Zeit über unabhängig, erfolgreich und stark fühlen kann und die vor allem nicht an ihre elterliche Herkunft erinnert. Keine Spur vom armen Kind mit migrantischem Familienhintergrund, von der Tochter ex-jugoslawischer Kriegsflüchtlinge, der Schwester einer typischen „Jugo“, die völlig unhinterfragt die dazugehörenden weiblichen Klischees bedient. Doch Blut scheint eben doch dicker zu sein als Wasser und Ljiljana ist nun mal ihre Schwester.

Die beiden erreichen Serbien, ohne an der Grenze aufgehalten oder gar kontrolliert zu werden. Noch scheint die österreichische Polizei, wider Ljiljanas Erwartung, nicht auf ihrer Spur zu sein. Womit aber Sanja und Ljiljana auf keinen Fall gerechnet haben, ist, in eine von Gewalt, mafiösen Geschäften und Blutrache geprägten Welt einzutauchen – und zwar in dem Moment, in dem sie das Haus der Hexe betreten.

Die Jugoslawienkriege zwischen 1991 und 2001 haben nicht nur die Landkarte verändert, sondern vor allem die dort lebenden Menschen geprägt. Körperliche Gewalt bis hin zu Mord, nie verzeihbare Geschehnisse, die immer wieder die Rechtfertigung für irgendeine Rache bieten, und ein (Über-)Leben, für das das nötige Geld nicht selten aus illegalen bis kriminellen Aktivitäten stammt, prägen den Alltag. Und regiert wird das Dorf von der Familie der Hexe, in welcher zwar das Matriarchat Gesetz ist, jedoch durchgesetzt mit denselben Methoden wie im Patriarchat.

Neben der „Godmother“ Nikolina Jovanović treffen Sanja und Ljiljana dort noch auf Nikolinas Sohn Konstantin und ihre Schwester, die Ärztin Dragica Perić. Was diese fünfköpfige Zufallsgemeinschaft dort, in diesem mafiösen serbischen Dorf, auf diesem Grundstück, in diesem einsamen Haus am Waldrand, erlebt, würde einem Quentin Tarantino das perfekte Drehbuch liefern. (Das könnte dann Kill Bill 3 oder Death Proof 2 sein und es müsste nur noch die Frage geklärt werden, welche Nebenrolle Tarantino hier für einen Kurzauftritt übernehmen könnte.)

Von der ersten Romanseite an steht die Wut als Grundemotion im Vordergrund. Es ist vor allem eine weibliche Wut, die ja viele im Vergleich zu der männlichen immer noch befremdlich, unpassend bis hin zu schockierend finden und die sich eher selten ihren Weg aus den Frauen heraus bricht. Sanja etwa spürt diese Wut eigentlich schon immer in sich. Sie ist wütend auf die eigene Herkunftsfamilie, vor allem auf ihre Mutter, auf deren Herkunftsland, aber auch auf Österreich, ihre Arbeitswelt und nicht zuletzt Männer.
Auch wenn sich der eine oder andere Mann zumindest als „Tinderdate“ oder „Gefallentuer“ (was meist eine Folge aus ersterem ist) hin und wieder noch als halbwegs brauchbar erweist, ist eine richtige Beziehung so ziemlich das Letzte, das sich Sanja in ihrem Leben wünscht. So tief und konsequent sie diese Wut empfindet und teils auch lebt, so intensiv spürt sie aber auch andere Emotionen, solche wie die unumstößliche Liebe zu ihrer Schwester. Denn als das Telefon klingelt und Ljiljana zu ihr sagt, „Sunny, ich brauche dich. Bitte. Kannst du kommen?“, denkt Sanja keine Sekunde über ihre Antwort nach, sondern fragt nur: „Klar, wohin?“

Die erwachsene Sanja hat viel Energie darauf verwendet, ihre serbischen Wurzeln und die Geschichte Ihrer Herkunft zu verdrängen, und doch braucht es nur einen Tag im Geburtsort ihrer Eltern und ihre ganze History of Violence (wieder ein Film, diesmal von David Cronenberg) bricht mit voller Wucht durch. Wie im Filmplot ist es aber ironischerweise gerade dieses (epigenetische) Erbe, dass ihr zu Hilfe kommt und ihr und Ljiljana das Leben rettet. Jetzt, wo diese Tür zur Vergangenheit schon mal aufgestoßen und ihr Leben vermasselt ist, bleibt ihr nur noch, ihren „Frieden“ damit zu schließen. Und genau dieser unbewusste Prozess, den die Psychologie als Rekonsolidierung bezeichnet, vermittelt trotz der Gewalt, durch die er in Gang gesetzt wurde, unglaublich viel Lebenskraft, Wärme und nicht zuletzt schwarzen Humor.

Die Autorin selbst teilt sich die eine oder andere biografische Besonderheit mit ihren Protagonistinnen. Sie ist 1988 noch im damaligen Jugoslawien geboren, aber bald mit ihrer Familie nach Tirol geflüchtet und in Österreich groß geworden. Ana Wetherall-Grujić lebt heute als Journalistin und Autorin in Wien und produziert einen Podcast mit dem Titel Keine Hand frei, in dem sich alles um das Thema „Die Doppel-, Dreifach- und Mehrfachbelastung von Müttern“ dreht. Lauter wunderbare Möglichkeiten, die Wut über all die Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft aufzugreifen, zu thematisieren und vor allem laut auszusprechen. Wobei die Betonung auf „auszusprechen“ liegt, denn zum Glück enden hier die Parallelen zu Sanja.


Daniela Fürst
ist Kultur- und Mediensoziologin und seit 2004 redaktionell sowie organisatorisch Teil des Projektes literadio, das Gegenwartsliteratur hörbar macht.

Ana Wetherall-Grujić Blutsschwestern
Roman.
Wien: Kremayr & Scheriau, 2024.
194 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag.
ISBN 978-3-218-01430-4.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autorin sowie einer Leseprobe

Homepage von Ana Wetherall-Grujić

Rezension vom 20.11.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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