Das Exil der kleinen Leute sozusagen, Zeitzeugen also, was von vornherein eine Einschränkung bedeutet. Man kann nur diejenigen befragen, die erstens überlebt haben und zweitens in Großbritannien geblieben sind, und die Nicht-Rückkehrer sind nicht immer repräsentativ. Andererseits impliziert das auch eine Ausweitung, weil diese Studie ganz anders ist als beispielsweise die bereits veröffentlichten Einzelstudien zu den Kindertransporten, zur Internierung der Exilanten in Großbritannien oder zur britischen Regierungspolitik. Es handelt sich in der Hauptsache um Familienmitglieder aus dem Bürgertum, weil es für arme Juden unendlich viel schwerer war, zu entkommen. Die meisten brachten ein reiches kulturelles Erbe mit, das aber eher ein deutsches als ein jüdisches Kulturerbe war, und wenig religiöse Bindungen.
Sie wurden von den in Großbritannien ansässigen Juden keineswegs mit offenen Armen aufgenommen. Manche Flüchtlinge wurden in britisch-jüdischen Familien als Haushaltshilfen ausgebeutet und schlecht behandelt (S. 93). Im August 1939 erhielt ein Exilanten-Ehepaar aus Österreich bei der Ankunft in Großbritannien wie die meisten ein 24seitiges blaues Büchlein (While you are in England. Helpful Information and Guidance for Every Refugee) vom German Aid Committee und dem Jewish Board of Deputies – also von ihrer „eigenen“ Gemeinschaft, die eine große Distanz zu ihnen einhielt. Man war sehr darauf bedacht, daß die Neuankömmlinge sich in jeder Hinsicht anpassen und vor allem für die vorhandene jüdische Gemeinschaft keine Schwierigkeiten bereiten sollten – auf der Straße und in Lokalen weder laut noch deutsch reden zum Beispiel. Es herrschte eine sehr große Distanz zur britisch-jüdischen Gemeinschaft, die eher fromm war, während die assimilierten Flüchtlinge einen höheren Bildungsstand hatten (S. 176, 179, 180, 181). Dies kommt im vorliegenden Buch stark zum Tragen: „Mißtrauen, Furcht und Ressentiments zwischen beiden Gruppen“ (S. 182). So wird es auch im Roman Scattered Seed von Maisie Mosco dargestellt, als die ehemals armen Juden Manchesters eine Bankierstochter ablehnen, die vor Hitler in eine Dienstmädchenstelle in England geflüchtet ist und sich über die Gegend beschwert. Stets im Gefühl, nur geduldet zu sein, haben sie Angst „it won’t do the Jews any good?“. (1) Die Verfasserin dieser Rezension kann sich erinnern, daß der Aufnahmeantrag ihres Vaters abgelehnt wurde, als er seine Mitgliedschaft in einer B’nai Brith Loge in Belsize Park, einer Exilantengegend, in eine andere, in einer von englischen Juden bewohnten Gegend transferieren wollte, wo er zufällig wohnte. Und die Welt ihrer Kindheit wurde bei der Lektüre dieses Buches wieder lebendig, als sich die Exilanten an den Wochenenden trafen und den Kindern von früher erzählten.
Die ersten Erfahrungen des Alltags waren oft niederschmetternd, von „Haushaltshilfen“ wurden von vornherein schwerste Dienstbotentätigkeiten verlangt, die sie nicht kannten (S.91). Und als eine Frau eine neue Stelle fand, wurde sie gezwungen, vor ihrer Abreise auf Knien den Boden ihres Zimmers zu scheuern – bei den Nazis war sie entkommen, bevor sie Bürgersteige schrubben mußte, und nun hier in England … (s. 92f.) Während des Krieges wurden etliche der Männer und eine der Frauen interniert (S. 127-151). Für jene Männer, die in deutschen KZs gewesen waren, eine Quelle unendlicher Traumata, aber von den meisten wurde die Internierung nachträglich relativ gut verkraftet. Die „Heimat“: eine problematische Situation nach dem Krieg. Der Antisemitismus war nach Ansicht der Zeitzeugen in Österreich immer stärker gewesen als in Deutschland, und nach dem Krieg beriefen sich die Österreicher auf ihren „Opferstatus“. (S. 203, 206f., 210, 215) Ein nach dem Krieg nach Wien zurückgekehrtes jüdisches Kind hat der Verfasserin bestätigt, wie stark seine Erfahrungen mit dem Wiener Nachkriegsantisemitismus in der Schule waren. (2) Haider jagt nach wie vor allen Angst ein. Ein stark zum Nachdenken anregendes Buch.
(1) Maisie Mosco: Scattered Seed, London 1980, S.129-30.
(2) Siehe auch Jacqueline Vansant: Reclaiming Heimat. Trauma and Mourning in Memoirs by Jewish Austrian Rémigrés. Wayne State University Press 2001.