Dass das zwar „immer noch nicht stabilisierte […] Prestige des Mediums“ (Anna Gentz) heute unvergleichbar höher steht als etwa noch vor einem Jahrzehnt, mag teils mit der Marke „Graphic Novels“ zusammenhängen, die in den letzten Jahren mit Nachdruck lanciert wurde. Eine derartige Vermarktungsstrategie wäre allerdings mit Sicherheit nicht aufgegangen, hätte sich der Comic in den letzten rund vierzig Jahren nicht vollkommen neu erfunden – nach seiner nachhaltigen Beschädigung in den 1950er Jahren, als das Medium in den USA, ausgelöst durch das Buch des Psychologen Fredric Wertham, „Seduction of the Innocent“, zum Prügelknaben der Nation und zur Zielscheibe eines „hysterischen Kreuzzug[s]“ (Andreas Knigge) wurde, dem auch öffentliche Verbrennungen folgten und schließlich der „comics code“ als freiwillige Selbstzensur. Seit den 1990er Jahren folgte erneut eine außergewöhnliche Anzahl herausragender Comic-Werke hervorgebracht.
Diese Revitalisierung des Mediums zeichnet der vorliegende Band in engagierten Beiträgen nach. Vorwiegend handelt es sich dabei um Werkanalysen im Rahmen von Autoren-Porträts, die aber durch Bezüge und Querverweise zwischen den einzelnen Aufsätzen auch untereinander kommunizieren. In seiner Einleitung spannt Andreas Knigge den Bogen vom gegenwärtigen Comic zu den Anfängen des Mediums in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts, als der Zeitungs-Comic-Strip von Richard Felton Outcault erfunden wurde, sowie zu dessen Vorgeschichte, die – neben Wilhelm Busch – vor allem mit dem Namen des Schweizers Rodolphe Töpffers verknüpft ist und dem unter anderen auch Goethe seine Ehrerbietung erwies. Knigge, bekannt für seinen Einsatz für eine zeitgemäße kritische Comic-Rezeption, skizziert die Entwicklungen des modernen Comics entsprechend den drei „geographisch-kulturellen Sphären“, den USA, Westeuropa und Japan.
Die im Folgenden porträtierten Autoren zählen heute großteils zu den Klassikern: Die Liste reicht von den US-amerikanischen Zeichnern Will Eisner und Robert Crumb, die auf je unterschiedliche Weise die Blockade der 1950er Jahre durchbrochen und die Grundsteine für eine freie Weiterentwicklung des Mediums gelegt hatten. Was Crumb Ende der 1960er Jahre mit dem Impetus des Underground-Zeichners bewerkstelligte, war eine radikale Öffnung des Comics, die, doppelt tabubrüchig, für eine Erweiterung der Themen wie Sexualität, Drogen etc. sorgte, aber zugleich überhaupt den Comic erst für das Genre der Autobiografie gleichsam formatierte. Eisner, bemüht um die Eigenständigkeit des Comics, seine Gleichwertigkeit im Vergleich mit anderen Medien, legte 1978 unter dem Titel „A Contract With God“ („Ein Vertrag mit Gott“) vier Erzählungen vor, mit denen er schließlich den Begriff der „Graphic Novel“ prägte und deutlich machte, dass der Comic, mit ganz eigenen medientypischen Mitteln, zum Erzählen ganz gewöhnlicher Geschichten fähig ist.
Erst durch diese Vorarbeit sind in den 1980er/1990er Jahren große autobiografische Werke wie „Maus“ von Art Spiegelman, „Persepolis“ von Marjane Satrapi oder „Die Heilige Krankheit“ von David B. (zu dessen Comic gibt es einen eigenen Beitrag) möglich geworden. Aber auch Subgenres der Autobiografie wie die autobiografische Reportage, autobiografische Tagebuch-Strips etc. wurden in der Folge sozusagen erst erfunden – verwiesen sei auf das zwischen 1992 und 1995 entstandene Schlüsselwerk von Joe Sacco: „Palestine“ („Palästina“) – und haben sich seit dem letzten Jahrzehnt boomartig entwickelt.
Weitere Beiträge beschäftigen sich mit Alan Moores „Watchmen“ und seiner subtil hintergründigen Auseinandersetzung mit den Superhelden-Comics; mit Jacques Tardi, „de[m] lebende[n] Klassiker des französischen Comics schlechthin“ (Christian Gasser), der in seinen Comics eine einzigartige atmosphärische Chronik Frankreichs ausbreitet; mit dem französischen Roman- und Comic-Autor Pierre Christin und mit dem Umstand, dass Szenaristen und Autoren oftmals allzu sehr und zu unrecht im Schatten der Zeichner stehen; oder mit der Welt von Hugo Pratts „Corto Maltese“ und der Modernität dieser bemerkenswert eigenschaftslosen Figur. Wie wenig eine arrogante Haltung gegenüber dem Medium Comic angebracht ist, bringen in diesem Band mehrfach nicht gescheute Vergleiche zum Ausdruck: So zieht Herbert Heinzelmann eine kühne Parallele zwischen den Werken Pratts und Robert Musils und stellt schließlich die rhetorische Frage, „ob Hugo Pratt mit den Comic-Romanen um ‚Corto Maltese‘ womöglich eine populäre und zeitgemäße Variante von Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘ geschrieben und gezeichnet hat“. Auch Andreas Platthaus, der in seinem Essay über Entenhausen ein differenziertes Bild des Zeichners und Szenaristen Carl Barks liefert, sieht in der Behauptung, Barks habe – zwischen 1942 und 1966 regulär und gemäß dem Geschäftsverständnis von Walt Disney in aller Anonymität – ein Werk geschaffen, „das als Comic unter den größten Meisterwerken des 20. Jahrhunderts Bestand haben wird“, „längst kein Wagnis mehr“. Mögen derartige Vergleiche – in Bezug auf alle anderen Medien völlig unerwähnenswert – im Kontext des Comics für manche zeitgenössische LeserInnen gewöhnungsbedürftig erscheinen, so sind sie im Kontext der betreffenden Beiträge freilich eingebettet in solide Analysen und ernsthafte Auseinandersetzungen.
Zum Glück halten sich die Beiträge nicht vollends an die topografischen Hauptzentren des Comics, und so führt ein Weg über den italienischen Zeichner Pratt zu dem südamerikanischen Comic-Künstler Alberto Breccia, der in hintergründigen Allegorien und bitteren Satiren die Schrecken der Militärdiktatur in Argentinien darstellte und schließlich mit seinem Comic-Roman „Perramus“ eine „alptraumhafte Parabel des Terrors“ (Dietrich Grünewald) schuf. Eine Überraschung bereitet wohl auch der Aufsatz von Anna Gentz über Julio Cortázar. Dem Verhältnis Literatur und Comic, insbesondere im Zusammenhang mit Literaturadaptionen, widmet sich zuvor Urs Hangartner in einem eigenen Beitrag. Gentz geht zwei kaum bekannten Arbeiten des Autors Cortázar nach, „Fantomas contra los Vampiros Multinacionales“ (1972) und „La Raíz del Ombú“ (Die Wurzel des Ombubaums) (1980), und zeigt, wie Cortázar in diesen wenig beachteten Comic-Werken mit ganz ähnlich ästhetischen Mitteln und experimentell vorgeht wie in seinen anderen Werken. Die Idee zu „Fantomas“ kam Cortázar anlässlich seiner Teilnahme am II. Russell-Tribunal, das sich um die Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen in diversen Regimen Lateinamerikas bemühte. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Comic-Erzählung kurz nach Veröffentlichung des vorliegenden Bandes in dem Wiener Septime Verlag in einer gut dokumentierten Anthologie erstmals auf Deutsch erschienen ist.**
Schließlich befasst sich Jens. R. Nieslen mit dem Manga, seinen Eigenheiten, seinen Entwicklungen von Osamu Tezuka über Keiji Nakzawa und anderen Autoren bis hin zu Jir? Taniguchi und hebt dabei hervor, wie präsent in vielen japanischen Mangas die Bombe und die Katastrophe nicht.
Was die vorliegende Publikation allerdings vermissen lässt, obwohl es einer Reihe, die sich schwerpunktmäßig germanistischen Themen widmet, durchaus anstünde, ist ein Beitrag zu den gegenwärtigen Entwicklungen des deutschsprachigen Comics. Er hätte auch eine interessante Ergänzung zu dem Werkstattgespräch dargestellt, das Knigge mit dem Reprodukt-Verleger Dirk Rehm geführt hat. Von diesem Manko abgesehen, bietet „Comic, Mangas, Graphic Novels“ eine ausgezeichnete Einführung in den modernen Comic.
* Um einige rezente Titel zu nennen: Schüwer, Martin: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2008. Dittmar, Jakob F.: Comic-Analyse, Konstanz: UVK 2008. Ditschke, Stephan / Kroucheva, Katerina / Stein, Daniel (Hg.): Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums. (Kultur- und Medientheorie.) Bielefeld: Transcript, 2009.
** Fantomas gegen die multinationalen Vampire. Aus dem Spanischen von Christiane Barnaházi und Elisabeth Schöberl. In: Julio Cortázar, Fantomas gegen die multinationalen Vampire und andere Erzählungen aus und über Lateinamerika. Hg. v. Ralph Doege, Christiane Barnaházi, Jürgen Schütz. Wien: Septime Verlag, 2009. S. 19-90. „Fantomas“ ist strenggenommen kein reiner Comic, sondern „ein Hybrid aus Comic, Bild und Novelle“.