Auch wenn die antike Vorstellung der musiké als ursprünglicher Einheit der beiden Künste nur ein im Rückblick erschlossenes Konstrukt ist, die Sehnsucht nach Verschmelzung von Musik und Sprache als verlorener Ort der Einheit der Künste ist als Topos wie als Element der Theoriebildung (von Rousseau über Nietzsche bis zu Julia Kristeva) lebendig. Parallel zur Etablierung der Instrumentalmusik in der Romantik – der Hochblüte der Musikerromane und -novellen – setzt sich die Vorstellung von Musik als Sprache (des Herzens, des Gefühls) durch. Aus der Perspektive der Literatur wird die Musik, das Musikalische in der Sprache gerne zum „Substitut und Platzhalter“ (S. 33) für das Unsagbare, das nicht-diskursive Andere der Sprache. Auch im 20. Jahrhundert lassen sich Kristallisationspunkte für die forcierte literarische Thematisierung von Musik festmachen: vor 1933, in den sechziger und schließlich wieder seit Ende der achtziger / Anfang der neunziger Jahre, wo Musik als literarisches Motiv einen wahren Boom erlebte, der auch mit einer Konjunktur diesbezüglicher Forschungsinteressen einhergeht.
Daß bei der Fülle der Bachmann-Literatur das Interesse an Musik als Konstituens ihrer Texte trotzdem überraschend gering ist, kann damit zusammenhängen, daß die traditionellen Spuren von Musik in ihrem Werk eigentlich gering sind und Musik als Motiv kaum vorkommt. Es gibt kaum Musikerfiguren in ihrem Werk (der Pianist Ödön Csobadi aus dem Entwurf zum zweiten Franza-Kapitel ist eine der wenigen Ausnahmen). Konkreten Komponisten- bzw. Werknamen (etwa in der Erzählung „Ihr glücklichen Augen“) kommt im Erzähltext keine Motivfunktion zu. Auch in der Lyrik steht „Sprachmusik“ etwa in der Art der Symbolisten und Dadaisten nicht im Vordergrund. Was Corina Caduff an (neuen) Spuren der Musik im Werk Bachmanns systematisch herausarbeitet, besticht nicht nur wegen seiner Fülle und Einlässigkeit, sondern vor allem auch deshalb, weil sie der Versuchung durchgängig widersteht, das schwer Faßbare / Andere mit Worthülsen zu umschiffen.
Organisationsprinzip der Arbeit ist die genremäßige Annäherung an das Werk. Als Einstieg entwickelt Caduff eine detaillierte und originelle Analyse von Bachmanns drei Musik-Essay-Entwürfen, die in den fünfziger Jahren – der Phase ihrer aktiven Hinwendung zu den „Ton-Genres“ (S. 137) Libretto und Hörspiel – entstanden sind und in der Forschung bislang wenig Beachtung gefunden haben. Anhand der frühen Erzählungen und Gedichte entsteht in der Folge ein Bild der spezifischen poetologischen Funktion der Musikformen, die Ingeborg Bachmann für sich entwickelte. Von den ersten Arbeiten an fungiert der Ton, das Klangliche, die Musik, als „Künder des Anderen“ (S. 119), Göttlichen, Dunklen, auch des Todes. Der Klang eröffnet einen Transitraum, der auch die poetische Existenz umschließt (Auch ich habe in Arkadien gelebt). Nach und nach wächst dem figurierten Reich der Musik die zweite Funktion als Chiffre des Gewesenen, der Erinnerung (Lieder auf der Flucht) und als Erretter aus der Erstarrung zu. In den Hörspielarbeiten – bei denen sich Bachmann dezidiert gegen die traditionelle „Brücken“-Funktion der Musik verwahrte – baut sie diese poetologischen Strukturen weiter aus. In Ein Geschäft mit Träumen sind die Übergänge in den Traumzustand über Musik vermittelt, in Die Zikaden ist die zentrale Sinnkonstitution – das Spiel von Erinnern und Vergessen – im Ton organisiert und in Der gute Gott von Manhattan findet die (Gefühls-)Sprache Jennifers in der Musik ihre Unterstützung. (Hier ist übrigens auch das titelgebende Zitat erstmals in einem Bachmann-Text zu finden, S. 151.)
Die beiden letzten, besonders dichten Kapitel des Bandes sind dem Malina-Roman gewidmet. Der Abschnitt „Musikalität und Rhythmus“ zeichnet die besondere Funktion der Musikzitate aus Arnold Schönbergs Pierrot lunaire (op. 21, 1912) – in sich eine Kunstfigur von phantastischer, tages-entrückter Existenz – für Komposition und Verfugung der Beziehung Ivan / Ich-Figur nach. Von diesem Kapitel führt auch der Weg zum Titelzitat. In den Vorfassungen und Entwürfen sind zahlreiche sprachliche Rhythmisierungen in der Art des „dadim dadam“ zu finden. Sie sind in der Endfassung nahezu durchgängig getilgt und mit Pierrot-Zitaten „überschrieben“ – zum Teil erst, als das Buch bereits in Satz war, wie ein Brief Bachmanns an den Verleger beweist. Der zweite Abschnitt zum Malina-Roman untersucht die Bedeutung von Musik und Gesang (manifest u. a. in den Vortragsangaben der Dialoge und den eingeschobenen Liedzitaten) für das Verhältnis Ich-Figur / Malina ebenso wie für die Symbolisierung des Schreibaktes. Die Figuren der Musik sind hier nicht punktuell in einzelnen Textpassagen bedeutsam, vielmehr tragen sie als dichtes Gefüge von Querverweisen, von motivlichen Fort- und Umschreibungen die Verankerung der Gesamtkonzeption des Romans.
Caduffs Untersuchung ist eine sorgfältige Erkundung über das Verhältnis Literatur und Musik im Werk Ingeborg Bachmanns, die über traditionelle Ansätze verwandter Spurensuchen hinausgeht und die für die weitere Beschäftigung mit dem Thema neue Impulse setzen kann.