#Roman

Das Floß der Medusa

Franzobel

// Rezension von Judith Leister

Große Unglücke sind meist systemischer Natur. Deshalb kann man aus historischen Katastrophen weitreichende Rückschlüsse auf Epochen und Gesellschaften ziehen. Ein Beispiel aus Österreich ist der Brand des Wiener Ringtheaters von 1881, bei dem mindestens 384 Menschen starben. Was zunächst einfach nur „tragisch“ zu sein schien, entwickelte sich zum Skandal. Der Bau wies zahlreiche Planungsmängel – fehlende Notbeleuchtung, nach innen öffnende Türen – auf, die bei der Massenpanik zur Falle wurden. Noch dazu gab ein Polizeirat die fatale Parole „Alles gerettet!“ aus – während im Inneren weiter Menschen verbrannten. Die meisten Toten gab es auf den oberen Rängen, also den billigen Plätzen. Dort war man am laxesten mit der Sicherheit umgegangen.

Ein Trauma von ähnlicher Dimension war das Schiffsunglück um die „Medusa“ von 1816 für Frankreich. Neben weit über 100 Toten erschütterten besonders die Berichte über Mord und Kannibalismus auf dem 13 Tage lang vor Westafrika treibenden Floß die französische Restaurationsgesellschaft. 27 Jahre nach der Französischen Revolution saß mit Ludwig dem Achtzehnten wieder ein Bourbone auf dem Thron. Der Adel erhielt seine Besitztümer zurück und wurde mit Schlüsselpositionen ausgestattet. So war es kein Zufall, dass statt eines erfahrenen Seemanns ausgerechnet der königstreue Hugues Duroy de Chaumareys, ein Günstling des Hofes, zum Kapitän des Flaggschiffs „Medusa“ ernannt wurde. Er sollte das Schiff direkt in die Katastrophe steuern.

Franzobel lässt seinen Roman mit der Rettung der 15 Überlebenden des Floßes beginnen. Er beschreibt, wie der Kapitän der französischen „Argus“ ein „Objekt“ mit nackten, ausgemergelten Männern sichtet. Als ein Rettungsboot nähert, entdecken die Seeleute einen abgerissenen Fuß zwischen den Planken und zum Trocknen aufgehängte Streifen aus Menschenfleisch. Dass es Franzobel nicht um die Illusion eines historischen Romans geht, wird schon dadurch klar, dass der Kapitän denkt: „Nein, das sind keine geflohenen Sklaven. Keine Darkies.“ Franzobel zielt auf die Gegenwart, die sich fern von solchem Grauen glaubt: „Wir können es uns also bequem machen, und uns versichern, bei uns kommt so was nicht vor, wir sind anders. Doch ist das wirklich so?“

Kehren wir zum historischen Kern der Geschichte zurück. Im Juni 1816 war im Auftrag der französischen Krone aus dem Küstenstädtchen Rochefort ein Verband von vier Schiffen losgesegelt. Ziel der Mission war die nach dem Pariser Frieden von 1814 von den Engländern zurückgewonnene Kolonie Senegal in Westafrika. An Bord der „Medusa“ reisten 400 Menschen – darunter Soldaten, Beamte, Neusiedler und einige Naturforscher. Die den anderen Schiffen unvorsichtigerweise vorausgeeilte „Medusa“ lief 20 Meilen vor Afrika auf eine durchaus bekannte Sandbank. Da das Schiff auseinanderzubrechen drohte und es nur sechs Rettungsboote gab, wurden 147 Menschen auf ein hastig gezimmertes Floß von 8 x 15 Metern gepfercht, das durch seine Last von Anfang an einen halben Meter unter Wasser stand. Es waren vor allem Soldaten und Seeleute niederen Ranges, denen zum Überleben nur drei Fässer Wein, zwei Fässer Wasser und ein Sack Zwieback zur Verfügung standen. Der Kapitän übrigens hatte als einer der ersten das Schiff verlassen, in einem Rettungsboot.

Franzobel blickt im Lauf des Romans tief in den Schiffsbauch und findet dort einen Querschnitt der französischen Gesellschaft. Da ist der verärgerte Erste Offizier, der im Kapitän nur „einen gepuderten Modenarren mit wattiertem Rock, pompöser Halsschleife und Gehstock“ sieht, sich wie alle anderen jedoch außerstande sieht, den Unfähigen seines Amtes zu entheben. Da ist der arglose Siedler, der mit der Familie in den Kolonien den Neuanfang wagen will oder der sadistische Schiffskoch, der den netten Schiffsjungen malrätiert. Die Sprache des Romans ist derb und opulent und lässt die Klassengegensätze einer durch die Revolution verrohten Gesellschaft deutlich hervortreten. Mit großer Unbekümmertheit vergleicht Franzobel Protagonisten mit Filmstars, verweist auf das Unglück der Costa Concordia oder die Flüchtlingskrise.

Leider reflektiert das Buch nicht, dass die Geschichte vom Floß der „Medusa“ als Zivilisationsbruch eine vielfach kommentierte und bearbeitete Erzählung der europäischen Geschichte ist. Die älteste Quelle ist der Bericht zweier Überlebender, der in allen europäischen Städten, von Paris bis Petersburg, ein großes Echo fand. Darin schilderten der Schiffsarzt Henri Savigny und der Schiffsingenieur Alexandre Corréard ihre Erlebnisse sachlich und nüchtern. Künstlerisch überhöht und damit unsterblich wurde das Geschehen erst durch das Gemälde Théodore Géricaults von 1819, das eine stark ästhetisierte Version des Geschehens bietet und heute im Louvre hängt. Es hatte einen Skandal zur Folge, der zur Absetzung des französischen Marineministers und von 200 Marineoffizieren führte.

Franzobel Das Floß der Medusa
Roman.
Wien: Zsolnay, 2017.
592 S.; geb.
ISBN 978-3-552-05816-3.

Rezension vom 24.05.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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