Der Reihe nach. Mössmer erzählt aus Alex’ Perspektive die Geschichte ihrer ersten ca. neun Lebensjahre. Das Mädchen Alex war immer seltsam und schwierig. Sie verhielt sich so, wie man es aus Berichten über Asperger-Autist:innen, Hochsensible oder Hochbegabte oder den Mix dieser Kategorien kennt. Vermutlich spielt Mössmer mit diesen Klischees, denn eine Diagnose fällt nicht gegenüber den Leser:innen, obwohl Alex in therapeutischer Behandlung ist. Sie scheut andere Kinder, Gesellschaft generell. Sie muss regelmäßig erbrechen, wenn andere in sie „hineingefahren“ bzw. wenn sie zu lange in solchen Kreisen [Situationen] ausharren muss, seien es Kindergärten oder die Schule. Sie verabscheut „falsche Bilder“, obwohl sie, kindlich, gar nicht merkt, wie sie selbst „falsche Bilder“ generiert, wenn sie z. B. darüber nachdenkt, welchen Wesen Bananenarme gehört haben könnten, oder darüber sinniert, dass „Affe“ in „Giraffe“ steckt. Oder wenn sie SpongeBob zu einem ihrer Lieblinge erklärt und gar nicht darauf kommt, dass dieser „Schwamm“ ein falsches Bild ist. Mehr noch: Sie versteht ihn lieber als gelbfarbigen Postkasten. Und am Ende ist Riri freilich das allerfalscheste Bild.
Als Baby war Alex ein extremes Schreikind, das später immer mehr Spleens und psychosomatische Auffälligkeiten entwickeln sollte. Ihre Interessen sind gewöhnungsbedürftig: Die Post und Briefe – eine gigantische, aber überschaubare Ordnung, Geologie und Vulkane. Sie brilliert auch mit biologischem Fachwissen. Ihr Sondertalent ist aber das Zeichnen von Karten aus der Vogelperspektive. Und vielleicht steht Riri am Ende für eine Brücke, spezielle Eigenarten, Eigenschaften und Kompetenzen mit der schnöden Alltagswelt in Einklang bringen zu können. Jedenfalls ist es Riri, die irgendwann einfach da war, nur von Alex gesehen wurde und ihr in jenen Situationen, welche ihr Anpassung abverlangten, auf dem Kopf saß und pickte, mit den Flügeln schlug und somit Alex manipulierte oder konditionierte, sich einfach anzupassen. Irgendwann sieht Alex sich einen Rock anziehen, mit Schminke zu experimentieren, Gespräche über Hundebabies und Puppen zu führen. Zumutungen ertragen. Bis dahin schienen ihre Spielsachen sich auf Kinderfilme zu reduzieren. Und Protagonist:innen aus den Filmen wurden zu Stellvertretern für Spielkamerad:innen. Keine Mädchen mit Schleifchen, sondern Nemo. Zu Fasching wird sie nicht Prinzessin oder Fee, sondern SpongeBob. Ob Riri am Ende überlebt, als anderer Vogel zurückkehrt, bleibt angesichts von Alex’ „gravierenden“ sozialen „Anpassungsstörungen“ offen.
Mössmer geht ein Wagnis ein, aus der Perspektive erstens eines Kindes zu erzählen, zweitens das Kind von 0 bis 9 Jahren wachsen zu lassen und dennoch ihre Stimme gleich wissend zu belassen, während das kleine Kind ja noch gar nicht reflektieren kann, geschweige sich äußern. Drittens ist es heikel, sich die Perspektive einer vermutlich hochbegabten hochfunktionalen Autistin anzueignen. Das gelingt nur mit einer großen Sensibilität für die Themen dieser Kinder und mit einer Kunstsprache, die eine Repräsentationsfunktion für Gedanken innehat und keinen wirklichen Sprechakt imitieren möchte;
Und dazu braucht es Ironie, Raffinesse und Einfühlungsvermögen – auch in die Protagonist:innen von Alex´ Umfeld: ihre Mutter, der Onkel, die Therapeutin und die Lehrerin u. a.
Dieses Einfühlungsvermögen und Mössmers höchst bildreiche und fließend-eingänge Sprache machen den Roman zu einem Leseerlebnis.