Nach der Anthologie Es wird nie mehr Vogelbeersommer sein … In memoriam Anita Pichler (1948-1997) – ein hübsch gestalteter Erinnerungsband mit CD, erschienen 1998, nunmehr (leider) vergriffen – haben sich die Herausgeberinnen Sabine Gruber und Renate Mumelter zu der vorliegenden Aufsatzsammlung entschieden (Mit Beiträgen von Wendelin Schmidt-Dengler, Janko Ferk, Christine Riccabona, Ulrike Kindl, Petra Nachbaur, Sigurd Paul Scheichl, Siegrun Wildner, Helga Guitink, Benedikt Sauer, Helmut Luger, Stephan Hilpolt). Sie spannt den Bogen von bio-geographischen Angaben zu Anita Pichler über eine Darstellung zu ihrem Nachlass (der sich im Österreichischen Literaturarchiv in Wien befindet) sowie zur Rezeptionsgeschichte bis hin zu eingehenden einzelnen Werkanalysen. Neben den vier Buchveröffentlichungen werden hier auch verstreute Prosatexte der Autorin mit einbezogen.
Als Anita Pichler ihre erste Erzählung, Die Zaunreiterin, vorlegte, war sie alles andere als eine Anfängerin, wenn man darunter literarische Unerfahrenheit oder Unsicherheit versteht. Wie es der Text bezeugt, der „im Vollsinne des Wortes ein Text (ist), ein Gewebe von Stimmen und Motiven“ (38) und der sich also „Zeile für Zeile dagegen wehrt, von der Sprache der Kritik eingeholt zu werden“ (28) (Schmidt-Dengler). Dass er dennoch – äußerlich besehen – ein wesentlich anderes Schicksal erlitt, führen gleich mehrere Verfasser von Beiträgen u. a. auch auf eine falsche Werbestrategie des Suhrkamp Verlages zurück, der Die Zaunreiterin als eine Erzählung, „in der ‚Weibliches‘ zur Sprache kommt“ auf dem Klappentext ankündigte. Die Reaktionen der Kritik reichten von totaler Ablehnung bis zu völliger „Verzückung“. Ein „Rezeptionsszenario“ (Luger), das sich bei der zweiten Erzählung, Wie die Monate das Jahr (1989), wiederholte. Umso erfreulicher ist daher, wenn sich die vorliegenden Beiträge zwar auch mit den Schwierigkeiten der Kritik, aber in erster Linie mit den Texten, ihren ästhetischen Strukturen und Konzepten sowie mit ihrem Verhältnis zu mythischen und literarischen Quellen und Vorlagen befassen.
Mit einem explizit literarischen Hintergrund arbeitet die Autorin in ihrer zweiten Erzählung, Wie die Monate das Jahr, die ihre Anspielung auf Oswald von Wolkenstein und damit eine der Folien des Textes bereits im Titel trägt. Der Titel weist zugleich auf einen mythischen Bereich, den der ladinischen Dolomitensagen, der (neben anderen) bereits in Pichlers Debüterzählung eine Rolle spielt – der ursprüngliche Titel, Haga Zussa, wurde auf Betreiben des Verlags mit „Zaunreiterin“ ins Neuhochdeutsche übersetzt und damit dem volkstümlich-mythologischen Umfeld gegenüber weitgehend neutralisiert. Doch geht es der Autorin niemals „um eine historisierende Annäherung an einen alten Stoff“ (46): „Am alten Stoff nimmt sie Maß für die Gegenwart.“ (47) (Riccabona)
Dies trifft auch auf Die Frauen von Fanis (1992) zu, dreizehn Erzählungen zu dreizehn Frauengestalten aus der ladinischen Überlieferung. Daher kann die Autorin diese Geschichten für sich proklamieren: „Fanes ist meine Geschichte. Es ist die Geschichte, die ich kenne, seit ich mich an Geschichten erinnern kann …“ Spannend an diesem Buch ist auch die Zusammenarbeit Pichlers mit dem Künstler Markus Vallazza, der sich mit einundzwanzig Graphiken dem Sagenstoff als Stoff einer „zeitlosen Zeit“ (Vallazza) annähert. Sowohl Pichler als auch Vallazza gehen jeweils eigenständig von ihrem Medium aus, der Durchbruch bzw. das Durchbrechen des je eigenen Mediums, in dem sie verfahren, soll dadurch zustande kommen, indem sie diesem selbst auf den Grund gehen: mit den Geschichten hinter die Geschichten, mit dem Bild hinter die Bilder.
Dieses Projekt setzt Pichler denn auch in ihrem letzten veröffentlichten Buch Beider Augen Blick. Neun Variationen über das Sehen (1995) fort. Es handelt sich hierbei um kurze Texte, zwischen Prosastück und Prosagedicht changierend, die auf eine Beschäftigung mit Bildern zurückgehen; die betreffenden Bilder sind im Anhang beigefügt. Die Autorin spürt dabei einer „erweiterten Ästhetik des doppelten Blicks“ (113) (Wildner) nach, die sich durch eine ständige und ständig neue Hinterfragung der eigenen Wahrnehmung entfaltet. Zu Recht sind diesem letzten Werk, das – ähnlich wie das vorletzte – in einem geringeren Maße als die beiden ersten Bücher rezipiert worden ist, im vorliegenden Band gleich drei Beiträge gewidmet. Sie zeigen auch Linien in Anita Pichlers ästhetischem Denken auf, die ihre Bücher allesamt durchlaufen: Das Thema der Wahrnehmung, ihre Rückkoppelung auf das Ich, das Verhältnis zur Kunst.
Zwei weitere interessante Aufsätze befassen sich mit fünf Prosatexten Anita Pichlers, die in unterschiedlichen Zusammenhängen entstanden sind und verstreut veröffentlicht wurden. Lediglich ausgespart hat der Band Untersuchungen zu sporadisch veröffentlichten Gedichten sowie zur Übersetzungstätigkeit der Autorin. Insgesamt ist diese Aufsatzsammlung zweifellos ein wichtiger Schritt und eine lohnende Annäherung an Anita Pichlers Werk. Ein Werk, das sich weniger durch seine Schmalheit als durch Konzentriertheit auszeichnet, ein Nadelöhr „ins Reich der Wörter“ (Pichler). Entgegen jener abgeklärten „lakonische(n) Empfehlung eines Bibliothekarsblattes“ (bezogen auf Die Zaunreiterin), auf die Wendelin Schmidt-Dengler in seinem Aufsatz verweist: „Für geübte Leser in großen Bibliotheken“ (32) heißt es da -, seien hier Pichlers Texte jenen LeserInnen ans Herz („das Herz, das ich meine“) gelegt, die Lesen selbst mit Übung, wiewohl in einem abenteuerlichen Sinn, verknüpfen möchten.