Heimweh löscht Klassenunterschiede. Der Tischler aus der Leopoldstadt, seine Frau, die Modistin, der Regisseur aus Zürich und Prag, der Kellner aus der Brigittenau, der Darmleidende aus Purkersdorf, der erfolgreiche Geschäftsmann aus Köln, der begüterte Aristokrat, sie alle haben ihre Heimat verloren, auf immer. Ihr Heimweh ist voller Widersprüche. Die Erinnerung an die Vertreibung verhöhnt jede sentimental-nostalgische Anwandlung. Wie man mit einem solchen gebrochenen Heimweh fertig wird, ist Kalmars Thema, das er in immer neuen Variationen therapeutischer Selbsttäuschung abwandelt – mit einer selten gewordenen Kunst, Geschichten zu erzählen, klar und sparsam in der Sprache, genau im Detail, mit überraschenden Wendungen und so lebendig in Dialogen und Gesten, daß man nach wenigen Seiten meint, seinen Menschen begegnet zu sein und neugierig ist, wie es ihnen denn weiter ergeht.
Kalmars Erzählungen, die so unauffällig plauderhaft einsetzen, sind echte Kurzgeschichten, und streben einem Höhepunkt, einer Wendung zu, die humorvoll, tragikomisch, ironisch sein kann. Zwei komplexere Fälle von Heimweh sprengen diese Form: „Ihre Augen“ , die Studie einer verhängnisvollen Naivität, die mit tragischer Notwendigkeit ihr Opfer in den Tod treibt, hat die psychologische Stringenz, die Ambivalenz von klinischer Distanz und Einfühlung einer Schnitzler-Novelle. „Der Austrospinner“, der behutsam erzählte Nachsommer eines Monarchisten, endet mit einer traurigen Wunscherfüllung, wie sie Joseph Roth im Pariser Exil hätte träumen können. In diese wehmütige, unerschütterliche Liebeserklärung eines Adeligen an Österreich sind geistreiche Monologe über Variationen des Heimwehs eingeflochten und über die Widersprüche des Österreichischen, über den „Selbstbetrug“ der Wiener, sich trotz ihres „Verschmalzungstalents […], Gräßliches in Gemütliches aufweichen, für gewinnend und liebenswürdig zu halten“ (S. 171f.). Der Widerspruch, sich nach einer solchen Stadt zu sehnen, kann unerträglich werden, zu einem erschütternden Ausbruch von Haßliebe auch des stillsten Menschen führen. Ein anderer will mit denen „dort drüben“ nichts mehr zu tun haben, und wartete dennoch und immer wieder auf jedes Schiff, jede Neuigkeit aus Europa und wartet sich zu Tode.
Doch in den meisten Erzählungen schweigt die Erbitterung. Diese Exilanten haben sich jene einfache, stille Menschlichkeit bewahrt, deren sich die, die sie vertrieben haben, so oft rühmen. Kalmar ist bemüht, die Verschiedenheit im Erleben des Exils festzuhalten, mit Ironie und Humor. Sprachschwierigkeiten werden zu unfreiwilliger Komik, ein Mißverständnis rettet die Situation, der Mangel am geringsten Sprachtalent ist Quelle des Humors wie der Hilfsbereitschaft. Die Mundart schenkt humorvolle Heimatwärme: „Ogrosl“ wird zu einem Zauberwort der „Übersetzung der Gefühle“, die im Fremden das Vertraute findet. Ein besonders liebenswerter Sonderling unter Kalmars Exil-Wienern ist ein Kaffeehaustalmudist, der auf seinen grotesk komischen Gedankensprüngen Weisheiten entdeckt, die selbst Skeptiker zum Schweigen bringen: Warum man heutzutage an Gott glauben soll? „Weil Gott an uns glaubt!“ (S. 119). Viele konnten sich ihre Sprachheimat mit dem Ehepartner in die Fremde retten, und so sind Kalmars Erzählungen auch Geschichten gemeinsamen Heimwehs und gemeinsamer Ein- und Überlebenskunst. Lilli Specht folgte ihrem Mann, obwohl sie „hätte bleiben können.“ Ein Vertrauensbruch (einer anderen „Arierin“) zerstört den Mann, der sich mit ihr die Heimat hatte bewahren wollen.
Kalmars Exilanten sind unpolitische Menschen. Keiner macht sich Gedanken darüber, wie nach dem Krieg eine menschliche Heimat zu schaffen wäre. Die Heimkehr, oft erwogen, ersehnt, verworfen, wird schließlich doch gewagt – mit ungleichem Ergebnis. Sie kann die kindliche Einfalt eines Exilanten, der trotz allem an das Gute glaubt, bestätigen und ihn in die Dorfgemeinschaft zurückversetzen, als ob nichts geschehen wäre. Sie kann mit der Rückkehr nach Südamerika enden, wo man längst die wildfremde Gegend in Wienerwald und Prater verzaubert hat und sich zwar nicht zu Hause, aber wie zu Hause fühlt; die wahre Heimat gibt es nicht mehr. Österreich ist fremd geworden.
Mit bewundernswerter Einfühlung hat Kalmar dem zwiespältigen, schmerzlichen Erleben von Heimatferne und -nähe literarische Form gegeben und ein bewegendes, humorvolles, trauriges, zutiefst menschenfreundliches Buch geschrieben.
Ursula Seebers kenntnisreiches Nachwort skizziert die spezifische Exilsituation in Südamerika und den biographischen Hintergrund des Buches. Kalmar wirkte am legendären Terramare-Theater in La Paz mit, war Mitbegründer und Präsident der Federacion Austriacos Libres in Bolivien, Konsul dort und später in Uruguay und lernte unzählige Exilanten aus Österreich und Deutschland kennen. Einige dieser Schicksale „werden in seinen Geschichten teils authentisch wiedergegeben, teils forterzählt“ (S. 188). Zu ergänzen ist, daß Kalmar 1999 in den Österreichischen PEN aufgenommen wurde. Sein nächstes Buch ist im Druck.
Horst Jarkas Besprechung von Fritz Kalmars Das Herz europaschwer ist bereits in der Zeitschrift „Modern Austrian Literature“ erschienen.