#Sachbuch

Das Hörspiel der fünfziger Jahre. "Regionalliga Süd" und "Champions League

Susanne Weichselbaumer

// Rezension von Kurt Bartsch

Die Sinnhaftigkeit regionaler Literaturgeschichtsschreibung steht seit geraumer Zeit kaum in Frage, besonders sinnvoll erscheint die Konzentration auf das Regionale gerade auch im Hinblick auf ein Genre wie das Hörspiel, das stark institutionenabhängig ist.

War es in den 1950er Jahren unter Heinz Schwitzke der Nord(west)deutsche Rundfunk in Hamburg , der unter allen westlichen deutschsprachigen Rundfunkstationen die wichtigsten Akzente für das traditionelle, wortzentrierte Hörspiel setzte, so in den sechziger und siebziger Jahren für das Neue Hörspiel (sowohl der experimentellen als auch der dokumentarischen Spielart) der Westdeutsche Rundfunk in Köln unter Klaus Schöning. Der Bayrische Rundfunk (BR) spielte, um auf den etwas saloppen Untertitel der vorliegenden Studie anzuspielen, weder in einer Amateurliga noch mit der Crème de la crème mit. Immerhin hat er aber in den fünfziger Jahren, die die vorliegende Studie ins Auge fasst, ein sowohl quantitativ (mit knapp 900 ausgestrahlten Funkstücken) als auch qualitativ ansehnliches Programm geboten.

Um die Qualität eines Programms abschätzen zu können, dürfen die größeren Zusammenhänge der Hörspielentwicklung im gesamten deutschen Sprachraum, aber auch international nicht aus dem Blick verloren werden. Darauf wohl soll der schon angesprochene Untertitel „Regionalliga Süd“ und „Champions League“ zielen, aber auch auf eine vergleichende Zusammenschau von weniger bekannten Produktionen mit solchen von Funkstücken kanonisierter Autorinnen und Autoren innerhalb des BR. Nicht zu Unrecht klagt die Verfasserin, dass in der Forschung nur ein sehr schmaler Kanon von Hörspielen aus der Blütezeit dieses Genres in eben jenen fünfziger Jahren Beachtung findet. Gewissermaßen nach dem Grillparzerschen Motto, dass „man […] die Berühmten nicht verstehen“ könne, „wenn man die Obskuren nicht durchgefühlt“ habe, versucht sie dem gesamten Hörspielspektrum der Zeit, einschließlich Krimis, Schwänken etc. gerecht zu werden, und zwar mit der Zielsetzung, dieses Gesamt einer quantitativen und qualitativen Analyse zu unterziehen. Jenes ist gelungen, dieses kaum.

Die Untersuchung stützt sich auf ein umfangreiches Quellenmaterial zur Hörspielproduktion beim BR in den fünfziger Jahren, vor allem auf Dokumente aus dem funkeigenen Archiv, selbstverständlich auf Tondokumente, aber auch auf Textzeugen unterschiedlicher Art von einzelnen Funkstücken (Autorenmanuskripte, Regiebücher etc.), auf Briefe, Protokolle, Honorarnoten etc. Weichselbaumer präsentiert allerlei Statistiken von unterschiedlicher Aussagekraft, die manch interessanten Einblick gewähren in die Beliebtheit einiger Autoren (Walter Jens ist mit 29 Ausstrahlungen zwar der meistgesendete Autor, wird aber von der Verfasserin im übrigen nicht weiter beachtet), in die Entwicklung der diversen Subgattungen des Hörspiels (originales, Prosa-, Dramenbearbeitungen) oder der Themenschwerpunkte, etwa in die Gegenläufigkeit des Verhältnisses von „Vergangenheitsbewältigung“ (der Begriff bleibt allerdings sehr diffus) und Gegenwartsbezug im Laufe der fünfziger Jahre. Das ist allerdings keine überraschend neue Erkenntnis, setzt doch die intensive Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit in der westlichen deutschsprachigen Literatur allgemein erst im Laufe der sechziger Jahre ein.

Nichts Neues bieten auch die einleitenden Passagen, in denen Weichselbaumer in die Geschichte des Hörfunks (in Deutschland allgemein, in Bayern im Besonderen) sowie des Hörspiels und der Hörspieltheorie ausgreift und eine knappe Übersicht über die Forschung verschafft. Volle Zustimmung verdient ihre Forderung, der häufig unterschätzten Bedeutung der Institutionengeschichte für die Entwicklung des Hörspiels entgegenzuwirken, die speziell am Fall des Rundfunks in Bayern die erheblichen Auswirkungen wechselnder politischer Einflussnahmen erkennen lässt. In die Vergangenheit (vor 1933, in die NS-Zeit, in die US-Besatzungszeit bis 1949) auszuholen, erweist sich sowohl für das Verständnis von Kontinuitäten als auch von Brüchen als unabdinglich und als sehr verdienstvoll. Sinn macht es auch durchaus, auf die wichtigsten Theoretiker der Zeit wie auf den schon genannten Schwitzke oder auch auf Gerhard Prager, Eugen Kurt Fischer und Armin P. Frank einzugehen, weil sich bei ihnen vorgestellt findet, was das traditionelle Funkstück auszeichnet: die Auffassung vom Hörspiel als Theaterersatz, die Ausrichtung auf Innerlichkeit, die bevorzugte Stellung des Worts gegenüber Geräuschen und Musik, die Bedeutung der Dramaturgie der Blende etc.

Etwas überraschend wird auch Friedrich Knillis Forderung nach dem „totalen Schallspiel“ vorgestellt, obwohl sie erst für die Hörspielentwicklung der sechziger Jahre, für das experimentelle Neue Hörspiel mit der tendenziellen Gleichwertigkeit aller akustischen Ausdrucksmittel von Bedeutung werden sollte. In den fünfziger Jahren bewegt sich das vom BR produzierte Hörspielprogramm jedoch durchwegs in traditionellen Bahnen. Knillis Position ist für die gegenständlichen Ausführungen demnach ebenso irrelevant wie auch manche der (allerdings prägnant) vorgestellten unterschiedlichen Definitionsversuche und methodischen Ansätze der Hörspielforschung. Zurecht stimmt Weichselbaumer jedoch in Reinhard Döhls Forderung nach einer „Hörspielphilologie“ ein, die auf Vergleiche von Autorenmanuskripten mit Produktions-, Sende- Regie und allenfalls publizierten Textfassungen sowie diversen Realisationen zielte. Wo die Autorin, aus dem Fundus des BR-Archivs schöpfend, diesem Postulat folgt, kommt sie zu interessanten Beobachtungen, etwa wenn sie die Bayrische Produktion von Leopold Ahlsens Philemon und Baucis mit der des NWDR vergleicht und die erheblichen Unterschiede in der Wirkung auf die Differenzen in den Erzählsituationen zurückführt. Eine solche hörspielphilologische Ausrichtung verspricht also durchaus ergiebig zu sein. Gleichwohl findet sie sich nur ansatzweise.

Um die angesprochene Fülle des Materials einigermaßen zu bewältigen, beschränkt sich Weichselbaumer in ihren „qualitativen Analysen“ auf Produktionen der „Stichjahre“ 1950, 1955, 1960. Diese Auswahl wird durchaus plausibel begründet: 1950 bietet sich als jenes Jahr an, in dem der BR erstmals nach der Einflussnahme durch die US-Besatzungsmacht das Programm selbst bestimmen durfte (dass nun die bayrische Landespolitik auf die Programmgestaltung beim BR maßgeblich Einfluss nimmt, wird nicht verschwiegen), 1960 als Umbruch aufgrund der durchschlagenden Veränderungen im medialen Bereich durch das Fernsehen sowie der zunehmenden Öffnung des Hörspiels für Experimente und politische Diskurse. Allerdings erweist sich diese Beschränkung auf drei bestimmte Jahre auch als Korsett, bleibt doch seinetwegen das einzige vom Bayrischen Rundfunk produzierte Hörspiel, das mit dem renommierten Preis der Kriegsblinden nobilitiert wurde, nämlich Ingeborg Bachmanns Der gute Gott von Manhattan von 1959 unbeachtet. Und gerade dieses Funkstück sollte ja zur Zielscheibe der Kritik von Seiten des Neuen Hörspiels werden, galt einem Wolf Wondratschek als Paradebeispiel des reaktionären Funkstücks der fünfziger Jahre.

Innerhalb der einzelnen Stichjahre konzentriert sich Weichselbaumer auf einige markante Beispiele. Über die Auswahl lässt sich wie immer in solchen Fällen streiten, nicht aber über die Fragwürdigkeit der Kategorisierung nach unterschiedlichen Kriterien sowohl der Hörspielgattungen (Originalhörspiel, Prosabearbeitungen, Dramenadaptionen, Weltliteratur, Deutsche Literatur, bayrische Mundart) als auch der Themen: Vergangenheitsbewältigung, Gegenwartsbezug, Historisches und kanonisiertes Hörspiel werden unterschieden, wobei dann unter „Historisches“ auch Stücke mit mythologischen Bezügen firmieren (so Wolfgang Hildesheimers Das Opfer Helena) und das Prädikat „kanonisiert“ undefiniert bleibt. Dass Günter Eichs Geh nicht nach El Kuwehd! zum Kanon des traditionellen Hörspiels der fünfziger Jahre gezählt wird, ist kaum anfechtbar, wohl aber, dass Alfred Anderschs Biologie und Tennis dazugehören soll, das immerhin vom Autor selbst in der Diogenes-Taschenbuchausgabe nicht berücksichtigt und erst in der posthumen kommentierten Werkausgabe erstveröffentlicht wurde. Ebenso undefiniert wie die Begriffe „historisch“ und „kanonisiert“ erscheinen die Termini „experimentell“ – ja man würde zu gerne erfahren, worin das Experimentelle von Wolfgang Weyrauchs Hörspiel Die japanischen Fischer oder einiger Prosabearbeitungen aus der Mitte der fünfziger Jahre liegt – und „literar-avantgardistisch“.

Im Großen und Ganzen bleibt alles in der vorliegenden Studie oberflächlich (die Zwischentexte zwischen den hervorgehobenen Hörspielen sind absolut unergiebig), ungenau (schreibt sich die Titelfigur der Hörspieladaption von Heinrich von Kleists Stück wirklich Kätchen [!] von Heilbronn – so mehrfach –, war Max Mell ein bayrischer Autor?) und uneinheitlich (manchmal erfährt man Genaueres über Produktionskosten und Mitwirkende, dann wieder nicht). Wertvoll sind allerdings die Statistiken und Auflistungen, das aber wohl nur für jene, die sich speziell für Details der Geschichte des Hörspiels im BR in den 1950er Jahren interessieren. Darüber hinaus bietet die Untersuchung kaum nennenswert Wichtiges und Interessantes. Zudem hätte die sprachliche Darstellung dringend einer Lektorierung bedurft.

Susanne Weichselbaumer Das Hörspiel der fünziger Jahre. „Regionalliga Süd“ und „Champions League“
Schriftenreihe.
Frankfurt a. M. u. a.: Lang, 2007 (= Studien zur Geschichte des Bayrischen Rundfunks. 4.).
355 S.; brosch.
ISBN 3-631-55613-9.

Rezension vom 18.08.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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