Seit früher Kindheit an einer Vielzahl von Krankheiten leidend, hat Christine Lavant die Existenzbedingungen von körperlich beeinträchtigten Menschen aus eigener Erfahrung gekannt. So beschreibt sie schlicht, aber mit großem Einfühlungsvermögen, wie die triste Lebenssituation eines kleinen, aus ärmlichsten Verhältnissen stammenden Mädchens, das es ohnehin gewohnt ist, eine Außenseiterin zu sein, in der sterilen, unpersönlichen, als bedrohlich empfundenen Welt der Klinik noch verschärft wird: „Der Boden glänzt so verdächtig, und dunkelrot ist er auch! – Überhaupt: Es sind ja gar keine Bretter da und nicht einmal ein Mausloch, wie bei einem richtigen Boden. Etwas stimmt da nicht!“ (S. 15) Das namenlos bleibende Kind reagiert auf alle Verstörungen, Irritationen und Anwürfe mit einer verstärkten Aktivierung der Phantasie, die teils religiös, teils märchenhaft magisch motiviert ist.
Bemerkenswerterweise läßt Lavant ihre Protagonistin allein deswegen aber nicht als völlig hilflos erscheinen; keineswegs ironisiert sie oder distanziert sie sich von Formen der kindlichen Realitätsverweigerung, sondern enthüllt an einer zentralen Stelle sogar die geradezu emanzipatorische Kraft, die auch aus solchen Überlebensstrategien erwachsen können. Als Liselotte, das dominante Mädchen in der Patientengruppe, einmal beim Ärzte-Spielen den vom „Kind“ vergötterten Primarius imitiert, wird sie von der Kleinen tätlich angegriffen und beschimpft: „- – Du! Du! – Heute Nacht kommt zu dir der Teufel. Ja, wirst sehen! […] – Weil du – du tust Gspötttreiben mit den heiligen Dingen! Die Zöpfe werden weggeschleudert, und was nun dasteht, ist zwar klein und über und über verbunden, aber eine Feierlichkeit, eine Inständigkeit und zugleich Wildheit ist rundherum und läßt alle starr stehen wie Holzpuppen.“ (S. 33)
Das besondere Leseerlebnis, das diese Ausgabe initiiert, hängt ohne Zweifel mit der Tatsache zusammen, daß ihr Wortlaut nicht auf der Erstausgabe von 1948 (siehe oben) bzw. deren Neuedition durch den Suhrkamp-Verlag im Jahre 1989 beruht, sondern auf einer Originalhandschrift Lavants, die erst vor kurzem der Forschung zugänglich geworden ist. Die Leser sind also erstmals mit einer Textfassung konfrontiert, die nicht wie bisher durch redaktionelle Eingriffe, Fehllesungen und (der Absicht nach normierende) „Verböserungen“ seitens des Brentano-Verlags korrumpiert worden ist, sondern unmittelbar Lavants umgangssprachliche Eigentümlichkeiten wiedergibt. Die sich im Zuge der Konzentration auf eine Sicht der Dinge aus einer Frosch- bzw. Randperspektive ergebenden Verfremdungen von literarischen Darstellungskonventionen bewirken ein reizvolles „Transparentmachen von Wahrnehmungs-, Versprachlichungs-, Ideologisierungs- und Hierarchisierungsmechanismen“ (Neva Libar).
Gewisse Schwächen weist diesmal – im Vergleich mit der Reihe von Lavant-Publikationen, die der Otto Müller-Verlag in den letzten Jahren herausgebracht hat – der kritische Anhang der beiden Herausgeberinnen auf. Das liegt nicht an der detailreichen Rekonstruktion der Werkgeschichte und dem hilfreichen Glossar, in dem vor allem Austriazismen, katholische Fachtermini u. ä. erläutert werden. Die Crux ist vielmehr, daß einerseits viele Argumente zugunsten der spezifischen Funktionalität der Lavantschen Idiome angeführt werden („Alle ‚grammatikalische Fehlerhaftigkeit‘ ist jedoch eigentlich nur die verschriftlichte Verwendung der österreichischen Umgangssprache, und diese wiederum ist an die Perspektive erfahrender Menschen geknüpft“, S. 87); andererseits aber wurde der Kommentartext selbst an etlichen Stellen äußerst umständlich, schwer nachvollziehbar, um nicht zu sagen: falsch formuliert. So werden, um Beispiele zu erwähnen, Veränderungen im Text „statiert“ (S. 92), wobei es sich offensichtlich um eine Verwechslung mit „konstatiert“ handelt; dann wieder liegen „Korrekturen von zwei fremden Händen vor“ (S. 94) und werden editorische Entscheidungen unter Hinweis auf den „(möglichen) Autorinnenwillen“ (S. 85) argumentiert, was immer sich hinter alledem verbergen mag. Was „inhaltlich betonende Satzglieder“ (S. 81) sind, bleibt ebenso dunkel wie Vergleiche „in analoger Erzählebene“ (S. 89) oder die Feststellung, daß Lavant „ihre Probleme mit der Beistrichsetzung […] in Verlagshände“ (S. 91) gelegt habe …
Diese Einwände ändern aber, wie gesagt, nichts daran, daß mit der Erzählung Das Kind ein weiterer wichtiger Impuls gegeben worden ist, um Christine Lavant nicht nur als Lyrikerin, sondern auch als Prosa-Autorin (neu) zu entdecken und zu würdigen.